Es ist rechtlich festgelegt und mehrfach vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden, dass das Existenzminimum nicht besteuert werden darf, sondern vollumfänglich als Einkommen erhalten bleiben muss.[1]
Unter dem Existenzminimum ist der auch ein hinreichendes Maß an soziokultureller Teilhabe umfassende Mindestbedarf jedes Menschen zu verstehen. Für Erwachsene wird das über den Grundfreibetrag (bzw. bei gemeinsamer Veranlagung von Ehepaaren über den doppelten Grundfreibetrag) umgesetzt. Der Kinderfreibetrag ist das dem Grundfreibetrag entsprechende Pendant für Kinder und Jugendliche. Er dient damit der Freistellung des kindlichen Existenzminimums von der Besteuerung.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundsatz formuliert, „dass der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird. … Ebenso wie der Staat … verpflichtet ist, dem mittellosen Bürger diese Mindestvoraussetzungen erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern …, darf er dem Bürger das selbst erzielte Einkommen bis zu diesem, Betrag … nicht entziehen … Bei der Besteuerung einer Familie [muss] das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben.“[2]
Der Grundfreibetrag und der Kinderfreibetrag sind systemimmanenter Bestandteil des an der steuerlichen Leistungsfähigkeit orientierten progressiven Steuertarifs. Für jeden Steuerpflichtigen gilt, dass er bis zur Deckung des eigenen Existenzminimums (und ggf. weiterer Existenzminima unterhaltsberechtigter Familienangehöriger) nicht leistungsfähig ist und daher mit dem Steuersatz 0 % besteuert wird. Erst jenseits davon beginnt Leistungsfähigkeit und entsprechend die Steuerprogression – vom Eingangssteuersatz bis zum Spitzensteuersatz. Wenn der Steuersatz ansteigt, wird im Sinne einer gleichmäßigen Besteuerung immer nur der jeweils nächste Euro mit dem höheren Steuersatz besteuert.
Ziel des Kinderfreibetrags ist die Herstellung horizontaler Steuergerechtigkeit: Indem er die bestehenden Unterhaltspflichten für Kinder durch die steuerliche Freistellung ihres Existenzminimums berücksichtigt, sorgt er für alle Familien im Vergleich zu Personen mit gleichem Einkommen, aber ohne Kinder (oder mit weniger Kindern), für eine gerechte, jeweils an der Leistungsfähigkeit orientierte Besteuerung. Der Kinderfreibetrag greift zudem ab dem ersten Euro oberhalb des (doppelten) Grundfreibetrags. Damit erreicht er alle Haushalte, die mehr als den (doppelten) Grundfreibetrag verdienen, d.h. die überwiegende Mehrheit der Familien.
Anders als vielfach wahrgenommen, handelt es sich beim Kinderfreibetrag nicht um eine Familienförderung, sondern um die Umsetzung des verfassungsrechtlich zwingenden Besteuerungsverbots. Niemand käme auf die Idee, den verfassungsrechtlich identisch begründeten Grundfreibetrag für Erwachsene als eine staatliche Leistung zu bezeichnen, durch die der Staat jede steuerpflichtige Person fördert. Nur beim Kinderfreibetrag wird teilweise in diesem Sinne argumentiert. Der Kinderfreibetrag ist keine mit öffentlichen Kosten verbundene Familienleistung, sondern schlicht der Verzicht auf Steuermehreinnahmen, die dem Staat nicht zustehen. Die oft geäußerte Kritik, er fördere besserverdienende Familien stärker als Geringverdienende und führe zu einer sozial ungerechten Umverteilung von Mitteln, übersieht aus Sicht des Familienbundes diese Zusammenhänge. Es verlangt vielmehr das Grundgesetz, dass das Existenzminimum eines Kindes sorgsam zu bemessen und steuerlich freizustellen ist – unabhängig davon, ob die Eltern arm oder reich sind. Die Umsetzung erfolgt durch den Freibetrag für das sächliche Existenzminimum des Kindes und den Freibetrag für den Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarf des Kindes (§ 32 Abs. 6 EStG). Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist auch der Betreuungs- und Erziehungsbedarf des Kindes „notwendiger Bestandteil des familiären Existenzminimums“[3].
Dass viele Familien nicht wissen, dass die Kinderfreibeträge bei ihnen wirksam werden, liegt daran, dass die aus den Kinderfreibeträgen folgende Steuererstattung über das Kindergeld ausgezahlt wird. Das Kindergeld ist gesetzlich so definiert (§ 31 S. 1 und 2 EStG), dass es in erster Linie der Steuererstattung dient. Nur den nach Abzug der Steuererstattung verbleibenden Anteil des Kindergeldes erhalten die Eltern als Familienförderung. Ein mit steigendem Einkommen immer größerer Teil des Kindergeldes ist daher keine Familienförderung, sondern eine steuersystematisch und verfassungsrechtlich erforderliche Steuererstattung. Viele Familien erhalten gar keine Familienförderung. Wenn die Höhe des Kindergeldes nicht ausreicht, um die notwendige Steuererstattung zu bewirken, erhalten Familien über das Kindergeld hinaus eine weitere Erstattung. In diesem Fall sind die Kinderfreibeträge klar erkennbar. In anderen Fällen sind sie gleichsam im Kindergeld „versteckt“.
In ihrer praktischen Umsetzung wirken die Kinderfreibeträge je nach Einkommenshöhe unterschiedlich. Diese häufig als ungerecht empfundene Wirkung der Kinderfreibeträge hat ihre Ursache im progressiven Steuertarif, der als Kehrseite zu einkommensabhängigen Entlastungen führt. Dies ist allerdings keinesfalls nur bei den Kinderfreibeträgen so, sondern gilt für alle steuerlichen Freibeträge wie z.B. den Arbeitnehmer-Pauschbetrag, die Freigrenzen für haushaltsnahe Dienstleistungen oder auch den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, die alle abhängig von der Einkommenshöhe unterschiedlich entlastend wirken und damit Besserverdienende vermeintlich bevorteilen. Aus dieser Ungleichheit wird jedoch ausschließlich im Kontext von Kindergeld und Kinderfreibetrag eine zu beseitigende Ungerechtigkeit zwischen Familien mit hohen und niedrigen Einkommen abgeleitet.
Lässt man sich auf diese Sichtweise ein, so ist festzustellen, dass die maximale Entlastung durch die Kinderfreibeträge aktuell mindestens 335 Euro pro Monat beträgt, gemessen am höchstmöglichen Steuersatz von 45 Prozent (Überschlagsrechnung 8.952 € x 45 Prozent: 12 Monate). Bei der überwiegenden Mehrheit der Familien liegt die Entlastungswirkung jedoch deutlich darunter. Für Familien mit geringen und unteren mittleren Einkommen ist die steuerliche Entlastungswirkung mit dem Kindergeld bereits abgedeckt bzw. wird durch dessen Zahlung sogar überschritten. Allerdings dient auch in diesen Fällen ein großer Anteil des Kindergeldes der Rückerstattung von Steuern. Laut der Datensammlung zur Steuerpolitik 2023 des Bundesfinanzministeriums dienen 54,5 Prozent der Zahlungen über alle Familien hinweg allein der Freistellung des Existenzminimums und nur 45,5 Prozent der verwendeten Mittel sind als tatsächliche Familienförderung zu verstehen (30,5 Mio Euro zu 25,5 Mio[4], siehe auch Ott/Schürmann/Werding; Nomos 2012).
In der Diskussion um die Finanzierung der Kindergrundsicherung steht seitens des BMFSFJ und einiger Verbände der Freibetrag für Betreuung, Erziehung und Ausbildung (BEA) zur Disposition. Aktuell werden die Kinderfreibeträge etwa ab einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 70.000 Euro (Zusammenveranlagung, z.B. Verheiratete) bzw. rund 33.800 Euro (Einzelveranlagung, z.B. bei unverheirateten Paaren oder Alleinerziehenden) so wirksam, dass die Wirkung des Kinderfreibetrags die Höhe des Kindergelds übersteigt.[5] Für diese Familien würden Kürzungen beim BEA-Freibetrag direkt spürbar und zu einer finanziellen Schlechterstellung führen. Dabei handelt es sich nicht automatisch um „reiche Familien“, wie die Diskussion über die Freibeträge in Politik und Gesellschaft oft nahelegt, sondern mehrheitlich um die Mitte der Gesellschaft. Ein zu versteuerndes Einkommen in dieser Höhe erreicht in der Regel ein normaler Akademiker-Paarhaushalt wie z.B. ein Lehrer:innen-Ehepaar.
Das Bundesverfassungsgericht hat den BEA-Freibetrag als Bedarf anerkannt, auch ohne dass Eltern direkt anfallende Kosten in dieser Höhe entstehen müssen. Dass der Bedarf unabhängig von den tatsächlichen Ausgaben besteht, gilt ebenso beim sächlichen Existenzminimum. Die pauschale Kritik, der BEA-Freibetrag sei zu hoch, erscheint ebenso willkürlich, wie es Kritiker oft dem Betrag selbst vorwerfen. Der Familienbund versteht den Freibetrag vorrangig als Unterstützung der Bildung und Teilhabe von Kindern, die im Sozialrecht bisher schlicht zu kurz kommt. Die Verbesserung dieser Situation wird in der Diskussion um die Kindergrundsicherung immer wieder gefordert. Nicht zuletzt war mit diesem Ziel die Neuberechnung des kindlichen Existenzminimums in Richtung auf eine Anhebung der knapp bemessenen Bedarfe verbunden. Auf diese Neuberechnung zu verzichten und stattdessen, in Unkenntnis der tatsächlichen Lage, das kindliche Existenzminimum de facto zu kürzen, ist schwer nachzuvollziehen und widerspricht den eigenen politischen Zielen der Regierungskoalition. Nicht zuletzt sahen die Eckwerte des BMFSFJ vor, das Existenzminimum von Kindern stärker an die gesellschaftliche Mitte anzugleichen – und nicht die Bedarfe der Mitte auf ein unzureichendes Existenzminimum herunterzustufen.
Der Familienbund kritisiert zudem, dass im Zuge einer eventuellen Freibetragskürzung zugunsten der Kindergrundsicherung die Familien den Ausbau der neuen Familienleistung selbst gegenfinanzieren würden. Alle Familien müssten damit einen größeren Anteil ihres Einkommens als Steuern abführen. Die Folge einer Freibetragskürzung wäre demnach eine höhere Besteuerung ausgerechnet der bereits durch die Pandemie und die Inflation vielfach belasteten Familien, während die Koalition ansonsten jede Form von Steuererhöhungen ablehnt. Zugleich findet auf diese Weise eine Umverteilung im Wesentlichen zwischen Mittelschichtsfamilien und Familien mit geringem Einkommen statt. Die zweifellos nötige stärkere Unterstützung der einkommensschwächeren Familien ist aus Sicht des Familienbundes jedoch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und keine reine Familienangelegenheit.
Selbst wenn viele Familien den steuerlichen Verlust von Einkommen mithilfe des Kindergeldes im Ergebnis ausgleichen können, macht es für den Familienbund und auch für die Familien selbst einen erheblichen Unterschied, ob sie ihre Existenz durch eigenes Einkommen oder durch Sozialleistungen sichern. Gleichzeitig entsteht erneut Intransparenz bei der Familienförderung: Während die Politik damit künstlich steigende Ausgaben für Familien ins Feld führen kann und das zukünftig auch als Argument gegen weitere Familienförderungen vorbringen könnte, tragen alle Familien auf diese Weise zu deren Finanzierung selbst bei - vermutlich vielfach unbemerkt – durch eine höhere Besteuerung und reale Einkommensverluste über alle Einkommensgruppen hinweg.
Dennoch kann sich auch der Familienbund ein gerechteres Steuersystem zur Finanzierung der Kindergrundsicherung vorstellen. Ansatzpunkt dafür sind aber nicht die Kinderfreibeträge. Stattdessen muss dringend das in seiner aktuellen Ausprägung ungerechte Steuer(tarif)system verändert werden, um wirklichen Reichtum deutlich stärker zu besteuern als bisher.
Denkbar ist auch eine Anhebung des Garantiebetrags der Kindergrundsicherung auf die maximale Entlastungswirkung der Freibeträge, um die unterschiedlichen Entlastungswirkungen durch eine höhere Förderung im unteren Einkommensbereich auszugleichen. Keinesfalls aber sollte eine Angleichung aus den genannten Gründen über die Kürzung der aktuellen Freibeträge für Kinder erfolgen. Auf die Ungerechtigkeit zu niedriger Familienförderung mit der Abschaffung gerechter Besteuerung zu reagieren, wäre keine Gerechtigkeit, sondern eine neuerliche Ungerechtigkeit.
Ansprechpartner:in: Matthias Dantlgraber, Ivonne Famula
[1] §§ 32, 32a EStG; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 25. September 1992, BVerfGE 87, 153 (169).
[2] BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 29. Mai 1990, BVerfGE 82, 60 (85).
[3] BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 10. November 1998, 2 BvR 1057/91.
[4] Offener Datensatz „Datensammlung zur Steuerpolitik 2023“, siehe Register 2.8.1. (xlsx-Daten).
[5] DIW aktuell Nr. 64, Mai 2021.