Stellungnahme des Familienbundes der Katholiken zum Entwurf eines Gesetzes der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (BT Drs. 17/3404)
I. Allgemeine Erwägungen
Der Familienbund der Katholiken begrüßt, dass der Gesetzgeber infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) gehalten ist, die Regelleistungen nach SGB II und SGB XII auf der Grundlage der in der Verfassung verankerten rechts- und sozialstaatlichen Gewährleistungen neu zu bemessen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Weg weisenden Entscheidung auf die Notwendigkeit hingewiesen, alle existenznotwendigen Aufwendungen von Erwachsenen und Kindern in einem transparenten und sachgerechten Verfahren sowie auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen.
Der Entwurf wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen indes nicht gerecht. Bereits die ministeriellen Vorarbeiten unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit ließen Transparenzerfordernisse außer Acht. Folgerichtig wäre es gewesen, sich zunächst – unter Einbeziehung von Sachverständigen und kompetenter Fachöffentlichkeit – auf eine neue sachgerechte Berechnungsmethodik zu verständigen und anschließend die ausgewerteten Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 einzufügen. Aufgrund der intransparenten Vorarbeiten kam naheliegenderweise der Verdacht auf, es werde letztlich die Berechnungsmethodik zum Zuge kommen, die unter Einbeziehung der ausgewerteten Ergebnisse der EVS 2008 die politisch gewünschten Zahlbeträge liefert.
Auch in materieller Hinsicht steht die Neuberechnung der Regelleistungen nicht in Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Realitätsverzerrende Ergebnisse resultieren beispielsweise aus der Nichtherausnahme der großen Zahl von „verdeckt Armen“ aus der Referenzgruppe, aus der Nutzung von Daten mit zum Teil äußerst geringer Validität aufgrund sehr kleiner Stichprobengrößen sowie aus übermäßigen Ausschlüssen angeblich nicht regelbedarfsrelevanter Warengruppen, die die Methodik des zugrunde liegenden Statistikmodells konterkarieren. Die Verkleinerung der Referenzgruppe für die Erwachsenenregelleistung auf die untersten 15 Prozent (statt bisher 20 Prozent) der Einkommensbezieher/innen ist ebenso sachwidrig wie die Nichtberücksichtigung zahlreicher mit Bildung und Teilhabe im Zusammenhang stehender Ausgaben bei Kindern und Jugendlichen mit Verweis auf das sog. Bildungspaket.
Besonders wird das faktische Einfrieren der Regelleistungen für Kinder in den kommenden Jahren kritisiert. Die aktuellen Kinderregelsätze liegen nach dem Entwurf über den tatsächlichen ermittelten Werten. Solange diese Differenz bestünde, werde es keine Erhöhungen geben. Dagegen müssen aus Sicht des Familienbundes die Regelsätze für Kinder je nach Altersstufe mindestens zwischen 21 und 42 Euro steigen.
Die dem Bildungspaket für Kinder und Jugendliche zugrunde liegende Intention, einen tatsächlichen Zugang armer Kinder zu befähigenden Sachleistungen zu schaffen, wird grundsätzlich begrüßt. Positiv wird die nunmehr vorgesehene Erstreckung des Bildungspakets auf kinderzuschlagsberechtigte Familien gewürdigt. Die konkrete Ausgestaltung der Maßnahmen weist allerdings trotz Nachbesserungen gravierende Mängel auf. Der Familienbund fordert, das Bildungspaket als über den Regelbedarf hinausgehendes Zusatzangebot „on the top“ auszugestalten. Unbedingt zu vermeiden sind Stigmatisierungen armer Kinder, Einschränkungen der elterlichen Verantwortlichkeiten sowie der Aufbau expandierender bürokratischer Parallelstrukturen neben den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe.
Im Zusammenhang mit anderen aktuell familienpolitisch relevanten Maßnahmen wie dem sog. Sparpaket (Haushaltsbegleitgesetz 2011, BT Drs. 17/3030) verschärft sich die Brisanz der Kritikpunkte. Die ab 1. Januar 2011 wirksame Anrechnung des Elterngeldes auf Leistungen nach dem SGB II wurde stets auch damit gerechtfertigt, dass infolge der Neuberechung der Kinderregelleistungen die Kinderbedarfe künftig hinreichend gedeckt seien. Zusätzliches Elterngeld sei für die Existenzsicherung einer jungen Familie daher nicht notwendig. Die nun wiederum nicht realitätsgerechte Bemessung der Regelleistungen in Verbindung mit der Anrechnung des Elterngeldes wird in der hochsensiblen ersten Lebensphase eines neu geborenen Kindes zu unvertretbaren wirtschaftlichen Mangelverhältnissen bei armen Familien führen. Die langfristigen Folgekosten für die Gesellschaft werden vermutlich um ein Vielfaches höher sein als die erhofften Haushaltseinsparungen in den nächsten Jahren.
Im Folgenden wird Stellung zu den aus Familiensicht besonders relevanten Einzelfragen des Entwurfs genommen.
II. Zu den Regelungen im Einzelnen
Die Neubemessung der Regelbedarfe
1. Abgrenzung der Referenzhaushalte – § 3 Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG)
Die durch die EVS 2008 ermittelten Ausgaben von Referenzhaushalten im unteren Einkommensbereich sind Grundlage für die Berechnung der Regelleistungen im SGB II. Um Zirkelschlüsse zu vermeiden, dürfen in den Referenzhaushalten keine Haushalte vertreten sein, die selbst Sozialtransfers beziehen.
Die Herausnahme von Haushalten mit Sozialtransfers ist allerdings nicht hinreichend. Studien zeigen, dass bis zur Hälfte der Anspruchsberechtigten ihre Ansprüche nicht wahrnehmen und in verdeckter Armut leben . Die Referenzgruppe hätte um die Bevölkerung in verdeckter Armut, die auf noch geringerem Einkommensniveau als Bezieher/innen von Sozialtransfers lebt, bereinigt werden müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zwar mit dem Verweis auf empirische Probleme den Verzicht auf die Ausklammerung der verdeckt Armen als vertretbar bezeichnet – allerdings nur für die bisherige Praxis. Das Gericht hat den Gesetzgeber zugleich ausdrücklich verpflichtet, „bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf zu achten, dass Haushalte, deren Nettoeinkommen unter dem Niveau … [der Sozialleistungen] liegt, aus der Referenzgruppe ausgeschieden werden.“ Der Entwurf lehnt dagegen weiterhin eine Korrektur der Referenzgruppe um die verdeckt arme Bevölkerung ab. Er steht damit trotz bestehender Möglichkeiten einer fundierten wissenschaftlichen Analyse der Problematik im Widerspruch zu den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts und ist bereits aus diesem Grund verfassungsrechtlich zu beanstanden.
2. Abgrenzung der unteren Einkommensschichten – § 4 RBEG
Als Referenzhaushalte für die Ermittlung der Regelbedarfe werden – nach Herausnahme der Sozialtransfers beziehenden Haushalte – von den Familienhaushalten die untersten 20 Prozent berücksichtigt, von den Einpersonenhaushalten lediglich die untersten 15 Prozent. Nach bisheriger Regelung wurden die untersten 20 Prozent der Haushalte einbezogen. Damit wird bei den Einpersonenhaushalten die Referenzgruppe deutlich von 20 Prozent auf 15 Prozent verkleinert mit der Folge einer entsprechend schlechteren Einkommenssituation der Referenzgruppe.
Der Familienbund kritisiert die Verkleinerung der Referenzgruppe bei Einpersonenhaushalten als politisch motivierte Maßnahme, die offensichtlich dem „Kleinrechnen“ des Erwachsenenbedarfs dienen soll. Gefordert wird eine Fortführung der bislang geltenden Praxis, die untersten 20 Prozent als Referenzgruppe heranzuziehen.
3. Regelbedarfsrelevante Verbrauchsausgaben der Einpersonenhaushalte – § 5 RBEG
Die Summe der regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben für Erwachsene beläuft sich nach dem Entwurf für das Jahr 2011 auf 364 Euro. Die Regelleistung für alleinstehende Personen beträgt seit dem 1. Juli 2009 359 Euro und soll damit lediglich um 5 Euro steigen. Der Familienbund hält diesen Betrag für nicht realitätsgerecht.
Die Funktionsweise des Statistikmodells
Nach dem Statistikmodell werden die Regelbedarfe auf der Grundlage von empirisch ermittelten Verbrauchsausgaben errechnet. Die Summe der als regelbedarfsrelevant definierten Verbrauchsausgaben ergibt ein monatliches Budget, mit dem die Leistungsberechtigten alle notwendigen Ausgaben finanzieren müssen.
Der Logik des Statistikmodells entspricht, dass in der Realität die einzelnen tatsächlichen Verbrauchsausgaben von den ermittelten abweichen können. Die ermittelten Verbrauchsausgaben stellen lediglich Durchschnittswerte dar. Sie können insbesondere dann zu Finanzierungslücken führen, wenn bestimmte Leistungen nur von einem begrenzten Personenkreis in Anspruch genommen werden (müssen) und sich bezogen auf alle Personen deutlich reduzierte Durchschnittswerte ergeben. Für Bezieher/innen von SGB II-Leistungen, die tatsächlich auf die entsprechenden Leistungen angewiesen sind, folgen daraus zwangsläufig Mehrausgaben, die durch Minderausgaben an anderer Stelle ausgeglichen werden müssen.
Beispielsweise sind im Bereich der Gesundheitspflege lediglich 2,64 Euro für Praxisgebühren (Abteilung 06, Nr. 42) eingestellt. Dieser Betrag resultiert daraus, dass nur in 55,8 Prozent der Referenzhaushalte Praxisgebühren angefallen sein sollen . Die in diesen Haushalten entstandenen Kosten in Höhe von durchschnittlich 4,67 Euro pro Monat ergeben bezogen auf alle Referenzhaushalte einen monatlichen Durchschnittsbetrag von 2,64 Euro. Bezieher/innen von SGB II-Leistungen können damit die im Krankheitsfall tatsächlich anfallenden Praxisgebühren in Höhe von 10 Euro je Quartal jeweils bei Hausarzt, Zahnarzt und hausärztlichem Notdienst nicht finanzieren.
Ähnliches gilt für Ausgaben für Mobilität. Für „Fremde Verkehrsdienstleistungen (ohne im Luftverkehr / ohne auf Reisen)“ (Abteilung 07, Nr. 46) sind 18,41 Euro eingestellt. Dieser Betrag resultiert daraus, dass lediglich in 53,9 Prozent der Referenzhaushalte ohne Kfz (Haushalte ohne Ausgaben für Kraftstoffe und Schmiermittel) Ausgaben für Bahn und Bus getätigt worden sein sollen. Die in diesen Haushalten entstandenen Kosten in Höhe von durchschnittlich 34,40 Euro pro Monat ergeben bezogen auf alle Referenzhaushalte ohne Kfz einen monatlichen Durchschnittsbetrag von 18,41 Euro. Bezieher/innen von SGB II-Leistungen ohne Kfz, die – insbesondere in ländlichen Regionen – auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, können damit die tatsächlich anfallenden Kosten für den ÖPNV und die Bahn nicht finanzieren.
Die Notwendigkeit interner Ausgleichsmöglichkeiten
Für die betroffenen Personen kann der Gesamtbetrag des Budgets allenfalls dann als existenzsichernd angesehen werden, wenn hinreichend Ausgleichspositionen vorhanden sind, um Mehrausgaben an der einen Stelle durch Minderausgaben an einer anderen Stelle zu kompensieren. Stuft der Gesetzgeber bestimmte Warengruppen als nicht regelbedarfsrelevant ein, werden die ausgleichenden „Puffer“ innerhalb der Regelleistung jedoch reduziert. Betreibt der Gesetzgeber einen übermäßigen Ausschluss angeblich nicht regelbedarfsrelevanter Anteile, konterkariert er schließlich die Philosophie des seinen Berechnungen zugrunde liegenden Statistikmodells. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich gefordert, „die regelleistungsrelevanten Ausgabepositionen und –beträge so zu bestimmen, dass ein interner Ausglich möglich bleibt“.
In diesem Zusammenhang ist der vollständige Ausschluss von Alkohol und Tabak aus dem Regelbedarf zu kritisieren. Die bisherige Regelung zu Grunde gelegt, müsste dafür ein anteiliger Betrag von 13,65 Euro vorgesehen werden. Die Diskussion im Vorfeld des Entwurfes legt die Vermutung nahe, dass die neue Wertentscheidung der Bundesregierung nicht sachlich, sondern politisch motiviert ist, um den Erwachsenenregelsatz nicht wesentlich erhöhen zu müssen. Die vollständigen Ausschlüsse von Ausgaben für den Mobilfunk, für Beherbergungskosten, für Haustiere sowie für weitere Warengruppen schränken die Möglichkeiten des internen Ausgleichs zusätzlich ein. In der Gesamtschau kommt es zu einem kaum vertretbaren Einschnitt in die Funktionsweise des Statistikmodells.
Entscheidet sich der Gesetzgeber gleichwohl für einen weiten Ausschluss von Warengruppen als nicht regelbedarfsrelevant mit der Folge stark eingeschränkter interner Ausgleichsmöglichkeiten, wäre er im Gegenzug zumindest gehalten, bei den verbleibenden Ausgabepositionen die Durchschnittsbeträge nur am Maßstab der Personengruppen zu ermitteln, die die jeweiligen Ausgaben tatsächlich tätigen. Bei der Praxisgebühr heißt das beispielsweise, dass 4,67 Euro statt 2,64 Euro in den Regelbedarf einzustellen wären. Für „Fremde Verkehrsdienstleistungen (ohne im Luftverkehr / ohne auf Reisen)“ müssten 34,40 Euro statt 18,41 Euro veranschlagt werden. Andernfalls kann von einem existenzsichernden Gesamtbudget nicht ausgegangen werden.
Fragen zur Datenqualität
Darüber hinaus lassen die ausgewerteten Daten der EVS 2008 teilweise grundlegende Zweifel an ihrer Stichhaltigkeit aufkommen. So ist es nicht nachvollziehbar, dass in der Sonderauswertung für die Abteilung 07 (Verkehr) 46,1 Prozent der Haushalte ohne Kfz keinerlei Kosten für den öffentlichen Personennah- und -fernverkehr haben sollen. Zu hinterfragen ist in diesem Zusammenhang die Zusammensetzung der Stichprobe. Sollte sich ein größerer Anteil aus Bewohnern und Bewohnerinnen von Einrichtungen zusammensetzen, wäre das Ergebnis nicht auf die Situation des SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende) übertragbar.
4. Regelbedarfsrelevante Verbrauchsausgaben der Familienhaushalte – § 6 RBEG
Die ermittelte Summe der regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben für Kinder und Jugendliche beträgt nach dem Entwurf
275 Euro für Jugendliche ab dem 14. Geburtstag,
242 Euro für Kinder ab dem 6. Geburtstag bis zum 14. Geburtstag,
213 Euro für Kinder bis zum 6. Geburtstag.
Aktuell betragen die Regelleistungen für Kinder und Jugendliche 287 Euro, 251 Euro und 215 Euro. Sie liegen damit über den neu ermittelten Regelbedarfen. Aus Gründen des Vertrauensschutzes sollen die aktuellen Beträge weiterhin gezahlt werden; dies entspricht durch die unterbleibende Anpassung an die gestiegenen Kosten bereits einer Absenkung des real verfügbaren Betrages. Zukünftig steigende Verbrauchsausgaben sollen sich erst dann in höheren Regelleistungen niederschlagen, wenn die Differenz zwischen aktuellen und ermittelten Regelbedarfen abgeschmolzen ist.
Die Forderungen des Familienbundes
Der Familienbund fordert dagegen eine sofortige Anhebung der Regelleistungen für Kinder und Jugendliche auf mindestens
310 Euro für Jugendliche ab dem 14. Geburtstag,
272 Euro für Kinder ab dem 6. Geburtstag bis zum 14. Geburtstag,
257 Euro für Kinder bis zum 6. Geburtstag
Im Vergleich zu den aktuellen Regelleistungen für Kinder und Jugendliche fordert der Familienbund damit mindestens
23 Euro mehr für Jugendliche ab dem 14. Geburtstag,
21 Euro mehr für Kinder ab dem 6. Geburtstag bis zum 14. Geburtstag,
42 Euro mehr für Kinder bis zum 6. Geburtstag.
Berechnungen des Gesetzesentwurfs nicht realitätsgerecht
Die regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben, die nach dem Entwurf Kindern und Jugendlichen in Familienhaushalten zugerechnet werden, sind keinesfalls realitätsgerecht. Beispielsweise erweist sich ein Betrag in Höhe von 74,93 Euro monatlich für Nahrungsmittel für Kinder von 6 bis unter 14 Jahren (Abteilung 01, Nr. 1) als erheblich zu gering. Von einem durchschnittlichen Tagessatz in Höhe von 2,50 Euro kann der Bedarf eines Heranwachsenden an gesunden Nahrungsmitteln für Frühstück, Mittag- und Abendessen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht gedeckt werden. Bereits für das Jahr 1998 wurde – bezogen auf die untersten 10 Prozent (!) der Einkommensbezieher/innen – ein durchschnittlicher Bedarf an Nahrungsmitteln und Getränken für Kinder in Höhe von 75 Euro pro Monat ermittelt.
Ein wichtiger Grund für die zu geringen Regelbedarfe ist wie bei der Erwachsenenregelleistung die Nichtherausnahme der verdeckt armen Bevölkerung aus der Berechnung. Das Ausgabeverhalten von Familien mit einem noch geringeren Einkommensniveau als Sozialtransfers beziehende Familien wird entgegen der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Maßstab der Regelleistung für Kinder und Jugendliche.
Wie bei der Erwachsenenregelleistung ist die Einordnung zahlreicher Warengruppen als nicht regelbedarfsrelevant zu kritisieren. Damit werden die Möglichkeiten des im Statistikmodell vorgesehenen internen Ausgleichs von Mehr- und Minderausgaben stark eingeschränkt.
Unzureichende Berücksichtigung der Annexkosten für Bildung und Teilhabe
Notwendige Annexkosten für die mit dem Entwurf beabsichtigte Förderung der sozialen und kulturellen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen werden nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Das betrifft vor allem die Bereiche Mobilität und Kommunikation. Sollen Kinder und Jugendliche Bildungs- und Teilhabeangebote wahrnehmen können, sind sie – vor allem im ländlichen Raum – auf die Nutzung des ÖPNV angewiesen. Für Jugendliche von 14 bis unter 18 Jahre ist für die Gesamtposition „Verkehr“ (Abteilung 07) lediglich ein Betrag in Höhe von 12,62 Euro vorgesehen. Bedenkt man, dass in diesem Betrag die Ausgaben für Kauf, Wartung und Zubehör von Fahrrädern bereits enthalten sind, verbleibt für den ÖPNV ein Restbetrag, der für eine kontinuierliche tatsächliche Inanspruchnahme (z.B. Monatskarte) bei weitem nicht ausreicht.
Des Weiteren lässt der Entwurf Ausgaben für Mobilfunk unberücksichtigt. Die Nutzung der mobilen Telefonie gehört jedoch mittlerweile zum Lebensalltag der meisten Menschen und bringt gerade bei Familien mit Kindern ein erhöhtes Maß an Flexibilität und Sicherheit mit sich. Sollen Kinder Bildungs- und Teilhabeangebote, die teilweise nur in räumlich weit entfernten Einrichtungen zur Verfügung stehen und nach der Konzeption des SGB II nicht mit Kfz sondern mit öffentlichen Verkehrsmitteln anzusteuern sind, tatsächlich nutzen können, brauchen sie bereits aus Gründen der Sicherheit Möglichkeiten der mobilen Telefonie mit ihren Eltern.
Geringe Validität des Datenmaterials
Ein gravierendes Problem bei den Regelbedarfen für Kinder und Jugendliche stellt die geringe Validität der zugrunde liegenden Daten dar. Die Stichprobengröße für die erfassten Jugendlichen im Alter von 14 bis unter 18 Jahre beträgt nur 115 Paarhaushalte mit Kindern . In den einzelnen Ausgabepositionen sinkt die Zahl der Beteiligten noch weiter ab. So fußen die Ausgaben für Fahrradzubehör (Abteilung 07, 0721 070) auf den Angaben von lediglich 30 Paarhaushalten mit 14- bis unter 18jährigen Personen. „Sport-, Freizeit- und Kulturveranstaltungen bzw. -einrichtungen“ (Abteilung 09, 0941 900) wurden nur von 31 Paarhaushalten (nicht 31 Jugendlichen!) mit 14- bis unter 18jährigen Personen besucht, so dass die Anteile für diese Ausgaben in der Regelleistung auf den Angaben von wahrscheinlich nur ca. 15 bis 20 Jugendlichen beruhen.
Unzulässige Abschläge im Hinblick auf das Bildungspaket
Der Familienbund kritisiert die im Entwurf vorgenommene Bewertung sonstiger Verbrauchsgüter wie Schreibwaren und Zeichenmaterial (Abteilung 09) als für Kinder ab 6 Jahre nicht regelbedarfsrelevant. Der Verweis auf das Schulbasispaket überzeugt nicht, da Kinder im schulpflichtigen Alter auch in ihrer Freizeit malen und basteln. Auch außerhalb des Schulbesuchs sind der Besitz von Schreibwaren oder Zeichenmaterial wichtige Grundlagen für die Entwicklung eines Kindes.
Der Familienbund spricht sich generell gegen eine Anrechnung der Leistungen des sog. Bildungspaketes bei den allgemeinen Regelleistungen aus. Das Bildungspaket sollte als wichtiges Zusatzangebot „on the top“ geschaffen werden. Formale Bildungs- und Teilhabeangebote stehen regional unterschiedlich zur Verfügung und können nicht von allen Familien gleichermaßen genutzt werden. Zugleich ermöglichen viele Familien außerschulische Bildung und Teilhabe in eher informellen Strukturen, z.B. in Eigenregie oder durch Verwandte, Freunde und Bekannte. Entsprechende Leistungen sind im Rahmen des Bildungspaketes nicht erfasst, verursachen aber gleichwohl finanziellen Aufwand oder Opportunitätskosten. Die ermittelten Bedarfe für Kinder und Jugendliche sind daher zur Gänze in die allgemeinen Regelbedarfe einzustellen und nicht teilweise mit Verweis auf das Bildungspaket auszugliedern.
Aufgrund der zahlreichen Mängel fordert der Familienbund eine Neuberechnung der Regelleistungen für Erwachsene und Kinder. Auf der Grundlage eines Berechnungskonzeptes des Deutschen Caritasverbandes setzt sich der Familienbund seit längerem für eine Erhöhung der Regelleistungen für Kinder und Jugendliche je nach Altersstufe um mindestens 21 bis 42 Euro ein. Näheres zu den Berechnungsgrundlagen ist zu finden unter www.caritas.de/48012.html.
Die nun vorliegenden Berechnungen des Gesetzesentwurfs erweisen sich als so mangelhaft, dass die geforderten Erhöhungsbeträge weiterhin aktuell bleiben.
Das Bildungspaket
1. Bedarfe für Bildung und Teilhabe – § 28 SGB II
Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben werden neben dem Regelbedarf gesondert berücksichtigt. Zum Bildungspaket gehören Leistungen für Schulausflüge und mehrtägige Klassenfahrten, für den persönlichen Schulbedarf, für außerschulische Lernförderung, für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung in Kitas und Schulen sowie für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben.
Der Familienbund setzt sich grundsätzlich für Geldleistungen auch im Rahmen der Sozialtransfers für bedürftige Familien ein. Familien dürfen nicht unter Generalverdacht gestellt werden, sondern benötigen Geldleistungen, über die sie selbstbestimmt verfügen können. Studien zeigen, dass Eltern in Armutssituationen zunächst ihre eigenen Bedürfnisse einschränken und zuletzt bei den Kindern sparen.
Zugleich anerkennt der Familienbund das Anliegen, mittels befähigender Sachleistungen in bestimmten Bereichen einen tatsächlichen Zugang bedürftiger Kinder zu wichtigen Leistungen der Bildung und Teilhabe schaffen und damit einen Beitrag zur Chancengerechtigkeit leisten zu wollen. So zeigen Statistiken, dass Kinder aus armen Familien örtliche Vereins-, Kultur- und Bildungsangebote stark unterdurchschnittlich in Anspruch nehmen . Hintergrund ist nicht das Unvermögen der Eltern, sondern der auf den Familien lastende Armutsdruck.
Allerdings darf das Bildungspaket eine deutliche Erhöhung der Kinderregelleistungen nicht ersetzen. Die ermittelten Bedarfe für Kinder und Jugendliche sind zur Gänze in die allgemeinen Regelbedarfe einzustellen und das Bildungspaket als Zusatzangebot „on the top“ auszugestalten. Unbedingt zu vermeiden sind Stigmatisierungen armer Kinder, Einschränkungen der elterlichen Verantwortlichkeiten sowie der Aufbau expandierender bürokratischer Parallelstrukturen neben den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe.
Schulausflüge und mehrtägige Klassenfahrten
Der Entwurf sieht vor, Kosten für ein- und mehrtägige Klassenfahrten in tatsächlichem Umfang zu übernehmen. Die Erstreckung der bisherigen Rechtslage, mehrtägige Klassenfahrten gesondert zu unterstützen, auch auf eintägige Schulausflüge, wird begrüßt. Kindern aus finanziell benachteiligten Familien wird damit ermöglicht, an diesen Angeboten teilzunehmen.
Schulbedarf
Der Entwurf sieht vor, für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf bei Schülerinnen und Schülern 70 Euro zum 1. August und 30 Euro zum 1. Februar eines jeden Jahres zu berücksichtigen. Die Regelung entspricht im Wesentlichen dem mit dem Familienleistungsgesetz vom 22.12.2008 (BT Drucks. 16/10809) eingeführten Schulbedarfspaket. Der Familienbund weist darauf hin, dass schulpflichtige Kinder Schreibwaren und Zeichenmaterial auch in der Feizeit nutzen und sich bereits aus diesem Grund eine Anrechung auf den Regelbedarf verbietet. Der elementare Schulbedarf kann mit der Gesamtsumme von jährlich 100 Euro nicht als gedeckt angesehen werden, solange keine Lernmittelfreiheit im gesamten Bundesgebiet sichergestellt ist.
Außerschulische Lernförderung
Schulisch ergänzende Lernförderung soll Schülerinnen und Schülern nach dem Entwurf im Falle einer Versetzungsgefährdung gewährt werden. Die Übernahme der Kosten muss besonders beantragt werden. Leistungen werden durch personalisierte Gutscheine oder Kostenübernahmeerklärungen seitens der Agentur für Arbeit erbracht.
Der Familienbund setzt sich für eine individuelle und kostenlose Lernförderung ein, die unmittelbar in den Schulen verankert ist und durch niedrigschwellige Angebote der Kinder- und Jugendhilfe unterstützt wird. Gutscheine und Kostenübernahmen kommen primär dem gewinnorientierten privaten Nachhilfemarkt zugute und schwächen die vorrangige Bildungsinstitution Schule. Zudem ist zu befürchten, dass die Agentur für Arbeit als zuständige Behörde in die Rolle eines Entscheidungsträgers über Bildungsinhalte und –umfang für hilfebedürftige Kinder avanciert. Den Arbeitsagenturen fehlt dafür nicht nur die fachliche Kompetenz, sondern es droht auch das Elternrecht untergraben zu werden.
Der Bund ist aufgerufen, gemeinsam mit den Ländern zügig nach Wegen zu suchen, wie die individuelle Förderung in den Schulen nachhaltig verbessert werden kann. Für die Übergangszeit ist der Gesetzgeber gefordert, die Härtefallregelung im SGB II für laufende besondere Bedarfe so auszugestalten, dass der individuelle Lernförderbedarf von Kindern davon umfasst ist. Familien mit Kindern, die zusätzliche Lernförderung benötigen, müssen einen entsprechenden Zuschlag zur allgemeinen Regelleistung erhalten. Dieser Zuschlag ist nicht nur im Falle einer Versetzungsgefährdung zu gewähren, sondern auch, um eine bessere Schulartempfehlung zu bekommen oder wenn die Wiederholung der Klassenstufe angezeigt ist.
Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben
Zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben (z.B. Mitgliedsbeiträge, Musikunterricht, Teilnahme an Freizeiten) soll laut Entwurf ein Bedarf von insgesamt 10 Euro monatlich berücksichtigt werden. Leistungen werden durch personalisierte Gutscheine oder Kostenübernahmeerklärungen seitens der Agentur für Arbeit erbracht. Die Agentur für Arbeit schließt mit Leistungsanbietern vor Ort Vereinbarungen ab.
Der Familienbund befürwortet grundsätzlich die Einführung eines Anspruchs auf Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben, allerdings als Zusatzangebot zu einer umfassend ausgestalteten Regelleistung. Abgelehnt wird der geplante Aufbau aufwändiger bürokratischer Parallelstrukturen neben den Angeboten der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe. Die Arbeitsagenturen als Einrichtungen der Arbeitsvermittlung sind nicht geeignet für eine Förderung der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen am sozialen und kulturellen Leben. Die Jugendämter als einschlägig zuständige Fachbehörden verfügen dagegen über entsprechende Kompetenzen sowie über etablierte Kooperationsbeziehungen zu Vereinen und anderen Akteuren. Der Familienbund plädiert daher für eine Aufgabenwahrnehmung durch die Kommunen und eine finanzielle Kompensation durch den Bund. Auch im Hinblick auf den Sozialdatenschutz wird abgeraten, Träger der Jugendhilfe sowie Schulen und Vereine mittels Leistungsvereinbarungen in Abhängigkeitsverhältnisse zu den Arbeitsagenturen zu bringen. Die im Entwurf nunmehr vorgesehene Möglichkeit der Beauftragung kommunaler Träger mit dem Abschluss und der Ausführung der Vereinbarungen wird als Schritt in die richtige Richtung begrüßt.
Setzt sich im weiteren Verfahren die Gutschein- bzw. Kartenlösung durch, verlangt der Familienbund, die Stigmatisierung bedürftiger Kinder zu verhindern. Erreicht werden kann das z.B. mittels einer Familiencard für alle Familien, die zu unterschiedlichen Konditionen erworben und deren Guthaben von unterschiedlichen Trägern gespeist werden kann.
Mehraufwendungen für eine gemeinschaftliche Mittagsverpflegung
Mehraufwendungen für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung in Schulen und Kitas werden übernommen. Leistungen werden durch personalisierte Gutscheine oder Kostenübernahmeerklärungen erbracht.
Der Familienbund begrüßt das Anliegen, bedürftigen Kindern die Teilnahme am Mittagessen in Einrichtungen zu ermöglichen. Vorgeschlagen wird – analog zu der geplanten Neuregelung für kinderzuschlagsberechtigte Familien – die Leistung nicht in Form von Gutscheinen sondern als Geldleistung zu gewähren. Des Weiteren müssen Familien ohne Möglichkeiten einer Teilnahme ihrer Kinder an einer gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung einen Ausgleich erhalten, da bei weitem nicht alle Einrichtungen entsprechende Angebote zur Verfügung stellen. Langfristig ist eine kostenlose Mittagsverpflegung in allen Einrichtungen zu schaffen.
2. Änderung des Bundeskindergeldgesetzes – § 6a BKGG
Der Familienbund begrüßt die Erstreckung des Bildungspaketes auf kinderzuschlagsberechtigte Familien. Ohne diese Erweiterung würden angesichts des bedarfsauslösenden Charakters des SGB II-Bildungspaketes erheblich mehr Familien in die Abhängigkeit von Grundsicherungsleistungen kommen. Neben der Ausstattung mit Schulbedarf auch den Zuschuss für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung als Geldleistung zu erbringen, wird nachdrücklich unterstützt. Gerade innerhalb von Schulen und Kindertageseinrichtungen ist es notwendig, stigmatisierende Wirkungen zu Lasten von Kindern aus einkommensschwachen Haushalten zu vermeiden.
Berlin, 17. November 2010
Familienbund der Katholiken, Markus Faßhauer
Stellungnahme als PDF zum Download