10.05.2023
Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege
Dilok/Adobe Stock
Da der Familienbund seinen Blick insbesondere auf die Familienperspektive in der Pflege richtet, konzentriert sich die Stellungnahme zum vorgelegten Gesetzentwurf auf die geplante Entlastung von Eltern durch die Staffelung der Pflegebeiträge nach der Kinderzahl sowie auf die vorgesehenen Veränderungen bei den Leistungen für pflegende Angehörige. Gleichzeitig nimmt der Familienbund ebenfalls Stellung zu den allgemeinen finanziellen Herausforderungen in der Pflegeversicherung. Soweit inhaltlich passend, werden dabei auch die Anträge der Fraktionen der LINKEN und der AfD berücksichtigt.
1.Einleitung
Der Familienbund der Katholiken bedankt sich für die Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege.
In der Debatte zur ersten Lesung des Gesetzes vom 27. April 2023 wurde es im Bundestag mehrfach erwähnt: Der überwiegende Teil der Pflege wird durch pflegende Angehörige geleistet. Vier von Fünf Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt, unter großem Einsatz der Angehörigen selbst. 80 Prozent aller zuhause gepflegten Menschen werden durch die Familie versorgt.[1] Das sind 2,55 Millionen Pflegebedürftige, die ausschließlich von Angehörigen, in Ausnahmefällen auch von Freundinnen und Freunden oder Nachbarn, betreut werden. Über eine weitere Million Pflegebedürftige werden von Angehörigen und ambulanten Diensten gemeinsam unterstützt (1,05 Mio.).[2] Insgesamt werden damit 3,6 Millionen Menschenüberwiegend zuhause und durch die eigene Familie gepflegt. Bei insgesamt knapp 5 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland[3] machen diese Zahlen deutlich, dass die private, von familiären Netzwerken getragene Pflege eine zentrale Säule des deutschen Pflegesystems ist.
Familien sind für die Sozialversicherung insgesamt unverzichtbar, denn sie tragen auf vielfältige Weise zu ihrem Erhalt und zu ihrer Stabilisierung bei. Das gilt für die Renten- und Krankenversicherung, aber insbesondere auch für die soziale Pflegeversicherung. Familien leisten bereits mit der Erziehung von Kindern einen wichtigen Beitrag, da diese wiederum mit ihren künftigen Beiträgen die Pflegeversicherung von morgen finanzieren. Die Pflegeversicherung ist wie die Rentenversicherung ein Umlageverfahren, in dem ein ganz überwiegend im Alter auftretendes Risiko durch die jüngere Generation abgesichert wird. Familien leisten einen wesentlichen sozialen Beitrag aber auch durch die Übernahme umfangreicher Pflegeaufgaben im Alltag sowie darüber hinaus durch die Beteiligung an den entstehenden Unterhaltskosten, auf informellem Weg häufig auch unterhalb der gesetzlichen Einkommensgrenze für den Rückgriff des Sozialversicherungsträgers.
Gleichzeitig steht die Pflegeversicherung aktuell vor enormen finanziellen Herausforderungen, wenn nicht zügig Veränderungen bei der Finanzierung eingeleitet werden. Ursache dafür sind unter anderem die positiven Entwicklungen einer steigenden Lebenserwartung und des medizinischen Fortschritts, aber auch die im demografischen Wandel sinkende Zahl junger Menschen, die im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung gleichzeitig als Beitragszahler:innen und pflegende Angehörige fehlen. Auch daran wird deutlich, dass Familien und künftige Generationen von erheblicher Bedeutung für die Pflege, aber auch für die Sozialversicherung insgesamt, sind.
Beide Aspekte – die enormen finanziellen und pflegerischen Leistungen seitens der Familien sowie die wachsenden Kosten der Pflegeversicherung – bilden den gesellschaftlichen Hintergrund des vorliegenden Gesetzentwurfs. Hinzu kommt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 07. April 2023, verbunden mit dem Auftrag an den Gesetzgeber, Eltern stärker bei den Pflegebeiträgen zu entlasten. In dieser Entscheidung bestätigte das Bundesverfassungsgericht die wichtige Aussage des Pflegeurteils von 2001[4], dass Familien mit der Kindererziehung einen zusätzlichen Beitrag für die Pflegeversicherung leisten, der bei der Erhebung der Pflegeversicherungsbeiträge zu berücksichtigen ist. Außerdem erkannten die Richter an, dass Versicherte mit mehreren Kindern einen größeren generativen Beitrag erbringen als Familien mit nur einem Kind. Der Gesetzgeber dürfe daher bei der Beitragserhebung nicht einfach wie bisher pauschal zwischen Versicherten mit und ohne Kinder unterscheiden, sondern müsse nach der Kinderzahl differenzieren. Dafür wurde eine Frist bis zum 31. Juli 2023 eingeräumt.
Die im Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen geplante Familienentlastung ist unausgewogen, unangemessen niedrig und nicht zielgenau. Sie verkennt den generativen Beitrag von Familien. Leider ist wie nach dem Pflegeurteil von 2001 zu beobachten, dass die Politik äußerst zögerlich ist, familienstärkende Vorgaben aus Karlsruhe umzusetzen. Familien ist mit dem aktuellen Vorschlag leider kaum geholfen. Es ist dringend notwendig, den Entwurf im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch zu verbessern und die Leistungen der Familien für das Umlageverfahren angemessen anzuerkennen.
Da der Familienbund seinen Blick insbesondere auf die Familienperspektive in der Pflege richtet, konzentriert sich die folgende Stellungnahme zum vorgelegten Gesetzentwurf auf die geplante Entlastung von Eltern durch die Staffelung der Pflegebeiträge nach der Kinderzahl sowie auf die vorgesehenen Veränderungen bei den Leistungen für pflegende Angehörige. Gleichzeitig nimmt der Familienbund ebenfalls Stellung zu den allgemeinen finanziellen Herausforderungen in der Pflegeversicherung. Soweit inhaltlich passend, werden dabei auch die Anträge der Fraktionen der LINKEN und der AfD berücksichtigt.
2. Entlastung für Familien bei der Beitragsgestaltung
Lösung des Familienbundes für die Familienentlastung bei den Beiträgen:
Der Familienbund befürwortet statt der im Gesetzentwurf vorgesehenen Kombination aus einem Kinderlosenzuschlag und einer vom zweiten bis zum fünften Kind gestaffelten Beitragsentlastung ein schlüssiges und deutlich einfacheres Modell: Es sollte einen einheitlichen Pflegeversicherungsbeitrag für alle Versicherten geben und für Familien pro Kind einen Kinderfreibetrag analog zum Steuerrecht.
Soweit der Gesetzgeber am Entlastungsmodell des Entwurfs festhalten will, fordert der Familienbund ein klares Bekenntnis zur Entlastung von Familien und eine Anhebung der Beitragsentlastung ab dem zweiten Kind auf mindestens 0,5 Prozentpunkte pro Kind.
Familien entlasten und unterstützen die Pflegeversicherung bereits heute in außerordentlichem Maße: durch die Erziehung von Kindern, die als zukünftige Beitragszahler:innen den Fortbestand der Pflegeversicherung überhaupt erst möglich machen, durch ihren enormen Einsatz bei der häuslichen Pflege sowie durch die (Teil-)Finanzierung der Unterhaltskosten für angehörige Pflegebedürftige. Es wird daher aus Sicht des Familienbundes Zeit, auch die Familien bei der Pflege zu besser zu unterstützen und zu entlasten. Dies muss auf verschiedenen Ebenen erfolgen: während der Zeit der Beitragszahlung und Kindererziehung ebenso wie bei der Übernahme von Pflegeverantwortung für die ältere Generation.
Was die Beitragsgestaltung betrifft, hat das Bundesverfassungsgericht hier am 07. April 2023 aus Familiensicht eine wichtige Entscheidung getroffen: Es erkennt (zum zweiten Mal nach dem ersten Pflegeurteil von 2001) erneut an, dass Familien mit der Kindererziehung einen zusätzlichen Beitrag für die Pflegeversicherung leisten, der bei der Erhebung der Pflegeversicherungsbeiträge zu berücksichtigen ist. Zusätzlich hat das Gericht darauf hingewiesen, dass Versicherte mit mehreren Kindern einen größeren generativen Beitrag erbringen als Familien mit nur einem Kind. Der Gesetzgeber ist daher aufgefordert, bei der Beitragsgestaltung nicht länger pauschal zwischen Versicherten mit und ohne Kindern zu unterscheiden, sondern die Beiträge nach der Kinderzahl zu differenzieren. Dafür wurde eine Frist bis zum 31. Juli 2023 gesetzt.[5]
Derzeit beträgt der Beitragssatz in der Pflegeversicherung 3,05 Prozent. Dieser soll nach dem Gesetzentwurf erhöht werden, um 0,35 Prozentpunkte. Er läge damit zukünftig bei 3,4 Prozent. Kinderlose zahlen darüber hinaus derzeit einen Beitragszuschlag in Höhe von 0,35 Prozentpunkten. Nach dem aktuellen Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen soll es in Zukunft folgende Beitragsdifferenzierungen geben: Der Kinderlosenzuschlag für Personen ab dem 23. Lebensjahr soll um 0,25 Prozentpunkte steigen und in Zukunft 0,6 Prozentpunkte betragen. Der Beitragssatz für Kinderlose erhöht sich somit auf insgesamt 4,0 Prozent. Wer ein Kind hat, muss den Kinderlosenzuschlag nicht zahlen. Es gilt hier grundsätzlich der normale Beitragssatz, was einer Entlastung in Höhe von 0,6 Prozentpunkten entspricht. Beim zweiten, dritten, vierten und fünften Kind soll es jeweils eine weitere Entlastung um 0,25 Prozentpunkte geben. Ab dem sechsten Kind sind keine weiteren Entlastungen vorgesehen. Zusätzlich sollen die Entlastungen ab dem zweiten Kind anders als im vorausgehenden Referentenentwurf des Gesundheitsministeriums nun nicht mehr lebenslang gelten, sondern nur solange, wie ein:e Versicherte:r tatsächlich für Kinder sorgen muss. Analog zur Regelung der Freibeträge im Steuerrecht wird im vorliegenden Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen als maximale Grenze dafür das 25. Lebensjahr des Kindes angenommen.
Die vorgeschlagene Staffelung erscheint verfassungsrechtlich wie familienpolitisch äußerst problematisch. Zum einen ist die geplante Entlastung pro Kind höchst unterschiedlich. Während durch die Anwendung des normalen Beitragssatzes das erste Kind zu einer Beitragsentlastung von 0,6 Prozentpunkten führt, beträgt die Entlastung für die weiteren Kinder mit jeweils 0,25 Prozentpunkten deutlich weniger. Eine Begründung dafür bleibt der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen schuldig. Beitragsrechtlich betrachtet ist das erste Kind damit fast 2,5mal so viel wert wie die weiteren Kinder. Es entsteht auf diese Weise eine Schlagseite zugunsten der Einkindfamilie und zulasten von Familien mit zwei und mehr Kindern. Diese Schieflage vergrößert sich weiter, wenn zusätzlich an der Idee einer zeitlichen Begrenzung der ab dem zweiten Kind gewährten Beitragsreduzierungen bis zum 25. Lebensjahr festgehalten wird. Obwohl doch jedes Kind unabhängig von seiner Rangzahl einen identischen generativen Beitrag für das System der Pflegeversicherung bedeutet. Es ist zweifelhaft, ob diese ungleiche Behandlung von gleichen „generativen Beiträgen“ mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes vereinbar ist. Das gilt auch für die fehlende Fortschreibung der Beitragsreduzierung ab dem sechsten Kind, was ebenfalls nicht einleuchtet. Mit jedem Kind erbringen Eltern einen generativen Beitrag, der zu berücksichtigen ist. Die Entwurfsbegründung verweist darauf, dass Familien mit fünf und mehr Kindern nur 0,6 Prozent aller Familien ausmachten. Dieser Anteil sei „klein genug, um nicht weiter zu differenzieren“[6]. Dieses Argument kann man auch umdrehen: Da durch die weitere Entlastung dieses kleinen Anteils der Familien nur eine geringe finanzielle Zusatzbelastung eintreten würde, sollte der Gesetzgeber nicht ohne Not von einer konsequenten und gerechten Staffelung abweichen.
Positiv hervorzuheben ist, dass die Entlastung jeweils vollumfänglich auf Seiten der Arbeitnehmerin und des Arbeitnehmers liegen soll. Allerdings fällt die Entlastungswirkung pro Kind insbesondere ab dem zweiten Kind für Familien gering aus. Bei einem Durchschnittseinkommen in Höhe von 39.000 Euro brutto im Jahr (das entspricht in etwa dem durchschnittlichen Bruttojahreseinkommen aller in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten[7]) erhielten Familien eine Entlastung von rund 8 Euro monatlich pro Kind. Auch wenn die Frage des angemessenen Ausgleichs für die Familienleistungen nicht ohne Rückgriff auf politische Wertungen zu beantworten ist, wird dieser Betrag der konstitutiven Bedeutung des generativen Beitrags für die Zukunft der Pflegeversicherung nicht gerecht. Eine Entlastung in dieser Höhe kann auch keinen relevanten Beitrag zur Armutsprävention leisten. Hier hätte sich der Familienbund ein mutigeres Bekenntnis zur Entlastung von Familien gewünscht, mindestens in Form einer Angleichung an die für das erste Kind gewährte Beitragsreduzierung. Gerade vor dem Hintergrund der vielfältigen Leistungen, die Familien für und in der Pflege erbringen, angefangen von der Erziehung von Kindern als zukünftigen Beitragszahler:innen über die enorme Entlastung der öffentlichen Hand durch die häusliche Pflegearbeit bis hin zur Kostenbeteiligung fordert der Familienbund – soweit der Gesetzgeber am Entlastungsmodell des Entwurfs festhalten will – eine Anhebung des Staffelungsbetrags auf mindestens 0,5 Prozentpunkte.[8]
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass beim Abfassen des Entwurfs vor allem der Blick auf die Kosten entscheidend war. Nicht ohne Grund verweist der Gesetzentwurf ausdrücklich darauf, dass die Staffelung der Beitragshöhe mit Bezug zur Kinderzahl „finanzneutral“ erfolge.[9] Berücksichtigt man die im Entwurf vorgesehene Beitragserhöhung, ergibt sich tatsächlich de facto eine Mehrbelastung für die allermeisten Familien (Tab 1).
Tabelle 1, Wirkung der neuen Beitragssätze inklusive Staffelung
| Beitragssatz alt | Beitragssatz neu | Belastung / Ersparnis Familien monatl., 39.000 € Jahresbrutto |
1 Kind | 3,05% | 3,40% | + 11,38 € |
2 Kinder | 3,05% | 3,15% | + 3,25 € |
3 Kinder | 3,05% | 2,90% | - 4,88 € |
4 Kinder | 3,05% | 2,65% | - 13,00 € |
5 Kinder | 3,05% | 2,4% | - 21,13 € |
6+ Kinder | 3,05% | 2,4% | - 21,13 € |
Mit Blick auf voraussichtlich weitere Beitragserhöhungen in der Zukunft zeigt sich, dass das gewählte Modell der gestaffelten Beiträge für Familien perspektivisch noch weniger Entlastung bringt. Die 0,25 Prozentpunkte verlieren an Wert, je größer der Referenzwert wird, auf den sie sich beziehen. Das heißt: Je höher die Beiträge steigen, desto geringer fällt die Reduzierung aus.
Zum anderen entsteht durch die prozentuale Entlastung (im Gegensatz zu einer Freibetragslösung) eine unterschiedliche Entlastungswirkung bei den Familien, die dazu führt, dass die Einsparung durch die Beitragsreduzierung bei hohen Einkommen stärker ausfällt als bei niedrigen Einkommen. Es ist interessant, dass die Ampelfraktionen diese Ungleichheit in der Sozialversicherung offenbar tolerieren, während sie im Steuerrecht, beim Zusammenhang von Freibeträgen und Kindergeld, mehrheitlich dagegen Sturm laufen.
Der Familienbund hat über 16 Jahre lang für mehr Gerechtigkeit gegenüber Familien und reduzierte Beiträge in der Sozialversicherung gestritten und den Weg bis zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 07. April 2023 intensiv begleitet und mitgestaltet. Aus seiner Sicht ist die nach dem ersten Pflegeurteil des Bundesverfassungsgerichts 2001[10] gefallene Entscheidung der Politik für einen „Kinderlosen-Zuschlag“ (ab 2005) – statt der vom Familienbund geforderten Entlastung von Familien – mindestens ungünstig, wenn nicht gar falsch: Er trägt zur gesellschaftlichen Spaltung bei, schadet damit dem Anliegen der Familien und wirkt gerade für ungewollt Kinderlose besonders provokativ. Das Festhalten an diesem Konstrukt auch nach der aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts setzt die entstandenen Probleme fort. Der Familienbund hat sich in seinem eigenen Modell stattdessen stets für eine Freibetragslösung ausgesprochen, bei der das Existenzminimum der Kinder wie im Steuerrecht unangetastet bleibt und erst darüber hinaus Beiträge auf das Familieneinkommen fällig werden. Diese Lösung hätte zudem den Vorteil, dass die Entlastung bei in Zukunft weiter steigenden Beiträgen ebenfalls höher ausfällt und zudem alle Familien exakt den gleichen Betrag erhalten: Da es in der Sozialversicherung keinen progressiven Tarif gibt, haben Freibeträge – anders als im Steuerrecht – bei allen Familien die gleiche Wirkung.
Der Familienbund befürwortet statt der im Gesetzentwurf vorgesehenen Kombination aus einem Kinderlosenzuschlag und einer vom zweiten bis zum fünften Kind gestaffelten Beitragsentlastung ein schlüssiges und deutlich einfacheres Modell: Es sollte einen einheitlichen Pflegeversicherungsbeitrag für alle Versicherten geben und für Familien pro Kind einen Kinderfreibetrag analog zum Steuerrecht. Ein Freibetrag wäre einfach umzusetzen und würde verhindern, dass von dem eigentlich zum Leben der Familie ausreichenden Einkommen Abzüge erfolgen, die den Bezug von existenzsichernden Leistungen (z.B. Bürgergeld) nach sich ziehen. Dass die öffentliche Hand zunächst durch unangemessene Abgaben Armut verursacht, um dieser dann durch Grundsicherungsleistungen wieder abzuhelfen, ist eine Hin- und Herzahlung, die wenig effizient und für Familien im unteren Einkommensbereich leistungsfeindlich und demotivierend ist. Die im Steuerrecht unumstrittene Logik des Freibetrages, ist ohne Weiteres auf die Sozialversicherung übertragbar.
Im Freibetragsmodell des Familienbundes wird die Entlastung auf die aktive Familienphase begrenzt. Im Rahmen der Analogie zum bereits existierenden steuerrechtlichen Freibetrag ist das folgerichtig. Die Regierungsfraktionen scheinen sich den Vorschlag partiell zu eigen gemacht zu haben. Allerdings greifen sie aus dem Modell des Familienbundes nur einen einzelnen Punkt heraus – nämlich die zeitliche Begrenzung der Entlastung. Im Familien deutlich stärker entlastenden und bewusst auf einen Kinderlosenzuschlag verzichtenden Modell des Familienbundes steht diese Idee allerdings unter ganz anderen Vorzeichen. Was im Rahmen der Freibetragslösung angesichts der deutlichen gesellschaftlichen Unterstützung für junge Familien als Bekenntnis zur Solidarität und einer gemeinsamen sozialen Verantwortung gedacht war, ist im vorliegenden Gesetzentwurf zu einer reinen Kostensenkungsmaßnahme für die Pflegeversicherung geworden. Mit der vorgesehenen Regelung, die Absenkung bei den Beiträgen ab dem zweiten Kind nur bis zum 25. Lebensjahr zu gewähren, wird das Ringen um eine finanziell stabile Pflegeversicherung auf dem Rücken von Familien ausgetragen. Ohne Familien mit unterhaltsberechtigten Kindern durch Kinderfreibeträge einen wirksamen Armutsschutz zu gewähren, verweigert diese Regelung Eltern mit mehreren Kindern im späteren Lebensverlauf die Entlastung, oft genau dann, wenn sie selbst die hier mehrfach angeführte Pflegearbeit an Angehörigen übernehmen. Das wirkt mit Blick darauf, dass dort, wo kein familiäres Netz (mehr) existiert, die öffentliche Hand einspringt, mindestens sozial unausgewogen. Eine Begründung für diese Entscheidung bleibt der Gesetzentwurf schuldig. Nochmals erwähnt sei an dieser Stelle auch die bereits genannte und rechtlich fragwürdige Schieflage, die daraus bei den Entlastungswirkungen pro Kind erwächst. Der Familienbund kommt daher zu dem Schluss, dass die zeitliche Begrenzung bei gleichzeitig gering ausfallender Entlastung von 0,25 Prozentpunkten für das zweite bis fünfte Kind kein sachgerechter Vorschlag ist. Sollte der Gesetzgeber bei der (wenig überzeugenden) Kombination aus Kinderlosenzuschlag und geringfügigen weiteren Entlastungen ab dem zweiten Kind bleiben wollen, ist eine einheitlich lebenslange Entlastung die „rundere“ und angemessene Lösung, um den Leistungen der Familien insgesamt gerechter zu werden.
3. Unterstützung und Entlastung für pflegende Angehörige
Der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen sieht ein wesentliches Ziel darin, dass „die häusliche Pflege gestärkt und pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen sowie andere Pflegepersonen entlastet werden.“[11] Auch in der parlamentarischen Debatte zur 1. Lesung des Gesetzentwurfes wurde mehrfach der große Einsatz der Angehörigen in der Pflege betont und auf die nötige Entlastung hingewiesen. Der Familienbund unterstützt dieses Anliegen ausdrücklich mit Verweis auf die umfangreichen Leistungen der Angehörigen, die knapp 80 Prozent aller Pflegebedürftigen betreuen und die Pflegeverantwortung dabei überwiegend allein tragen.
Die im vorgelegten Entwurf genannten Maßnahmen fallen jedoch recht zurückhaltend aus. Auch hier stehen die Kosten und die angespannte Situation der Pflegeversicherung offenbar vor den Interessen und Bedarfen der Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen. Ganz unverblümt schränkt der Entwurf gleich zu Beginn ein: „Dabei sind die allgemeinen ökonomischen Rahmenbedingungen sowie die finanzielle Lage der sozialen Pflegeversicherung zu beachten.“
Vorgesehen sind unter anderem eine Erhöhung des Pflegegeldes und der ambulanten Sachleistungsbeträge um fünf Prozent zum 1. Januar 2024 sowie eine Erhöhung aller Geld- und Sachleistungen zum 1. Januar 2025 um weitere fünf Prozent mit künftiger automatischer Dynamisierung dieser Leistungen ab 2028.
Der Familienbund verweist darauf, dass etwa die Beträge für das Pflegegeld seit 2017 nicht mehr angepasst wurden. Mit Blick auf eine jährliche durchschnittliche Inflation von um die 2 Prozent sowie auf die aktuelle Preisentwicklung des letzten Jahres fällt die vorgesehene Erhöhung in 2024 äußerst niedrig aus. Diese Erhöhung reicht keinesfalls aus „um die häusliche Pflege zu stärken und die gestiegenen Kosten der letzten Jahre zu berücksichtigen“.[12] Das Gleiche gilt für die Sachleistungsbeträge. Sowohl die Inflation als auch steigende Löhne führen zu erheblichen Kostensteigerungen. In der Folge müssten Angehörige entweder aus eigenen Mitteln die Sachleistungen mitfinanzieren oder auf deren Inanspruchnahme verzichten. Beides geht zu Lasten der Leistungsfähigkeit von Familien. Um die für die Pflegebedürftigen entsprechend gestiegenen Kosten realistisch abzubilden, erscheint dem Familienbund die im Antrag der LINKEN genannte Forderung nach einer Anhebung sowohl des Pflegegeldes als auch der Sachleistungsbeträge um 20 Prozent allein in 2024 durchaus schlüssig. Anzumerken ist zusätzlich, dass die Erhöhungen noch vor dem 1. Januar 2024 greifen sollten, da die erheblichen Preissteigerungen bereits jetzt Realität sind.
Die vorgeschlagene Leistungsdynamisierung zu Beginn der Jahre 2025 um weitere fünf Prozent sowie ab 2028 entsprechend der Teuerungsrate mit anschließender automatischer Dynamisierung bewertet der Familienbund als einen Fortschritt. Er fordert den Gesetzgeber auf, hierzu eine zügige Planung und Umsetzung anzustreben, damit zeitnah und möglichst lückenlos nach 2028 auf zukünftige Preisschwankungen reagiert werden kann.
Zu begrüßen ist die Flexibilisierung beim Pflegeunterstützungsgeld. Hier soll es ab dem 1. Januar 2024 möglich sein, pro Kalenderjahr wiederkehrend den Anspruch auf bezahlte Freistellung geltend zu machen, nicht mehr nur einmalig. Berufstätige pflegende Angehörige können sich damit jedes Jahr bis zu zehn Tage bei einer unvorhersehbaren Notlage freistellen lassen.
Der Familienbund bedauert es, dass die Idee des Entlastungsbudgets und damit eine Flexibilisierung bei der Inanspruchnahme von Kurzzeit- und Verhinderungspflege aus dem Referentenentwurf nicht in den aktuellen Koalitionsentwurf übernommen wurde.
Hier wird ersichtlich, dass es derzeit für pflegende Angehörige eine Vielzahl an einzelnen, oft sehr kleinteiligen und schwer durchschaubaren Unterstützungsmöglichkeiten gibt. Im Interesse der Familien plädiert der Familienbund dafür, diese Komplexität deutlich zu reduzieren, auch mit Blick auf Überlegungen zu einer zukünftigen bezahlten Freistellung im Rahmen der Familienpflegezeit. Es ist für Angehörige äußerst belastend, neben der direkten Pflege oder auch der Pflegeorganisation mühsam das für die Inanspruchnahme von Leistungen nötige Fachwissen zu erwerben oder einzuholen. Studien belegen immer wieder, dass zustehende Leistungen nicht oder nicht vollumfänglich in Anspruch genommen werden, da bei den Angehörigen genaue Kenntnisse darüber fehlen.
Im Rahmen der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung muss stärker als bisher berücksichtigt werden, dass Familien mit der Pflege von Angehörigen eine wünschenswerte gesellschaftliche Aufgabe übernehmen, die die öffentliche Hand enorm entlastet. Es ist nicht hinnehmbar, dass Familien mit dieser Aufgabe über weite Strecken allein gelassen werden. Das betrifft sowohl die finanzielle Entlastung wie Beratungs- und Begleitungsangebote. Es gilt, darauf hinzuwirken, stärkende Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige weiterzuentwickeln. Zu diesen können auch die Hausbesuche im Rahmen der Begutachtung gehören, wenn sie entsprechend vertrauensvoll gestaltet werden und nicht den Beigeschmack von Kontrolle oder Interessenkonflikten haben. Der Familienbund ist daher skeptisch hinsichtlich des Antrags der AfD, die Hausbesuche im Rahmen der Begutachtung einzuschränken. Zwar kann die Ausweitung digitaler Begutachtungen über Corona hinaus mehr Flexibilität für beide Seiten ermöglichen, dies sollte jedoch nicht zu einer Einschränkung des persönlichen Kontakts führen. Vielmehr sollte es darum gehen, im Interesse der Pflegebedürftigen wie der Angehörigen die Besuche so auszugestalten, dass sie einer ressourcenorientierten Beratung dienen und die Angehörigen (wie auch die Pflegebedürftigen) vor Überlastung schützen.
4. Finanzierung der Pflegeversicherung
Die problematische finanzielle Situation der Pflegeversicherung ist offensichtlich. Sie klingt auch im Gesetzentwurf an verschieden Stellen an. Eine zukunftsfähige Finanzierung der Pflegeversicherung erscheint daher dringlicher denn je. In diesem Punkt folgt der Familienbund dem Antrag der LINKEN. Zur Sicherstellung einer langfristig tragbaren Finanzierung sollte sowohl für die Pflege wie auch für die Sozialversicherung insgesamt eine Bürgerversicherung erwogen werden. Auf diese Weise könnte die Pflegeversicherung auf eine deutlich breitere Beitragsbasis gestellt werden. Zudem sollten alle Einkunftsarten, nicht nur Erwerbseinkommen, bei der Beitragsbemessung herangezogen werden. Langfristig plädiert auch der Familienbund für eine gemeinsame, öffentliche Pflegeversicherung für alle, um individuelle Risiken so solidarisch wie möglich aufzufangen.
Damit verbunden wäre auch eine Überprüfung der aktuellen Beitragsbemessungsgrenze. Durch deren Erhöhung oder gar Abschaffung entstehen weitere finanzielle Spielräume für die Pflege und zur Entlastung pflegender Angehöriger ebenso wie für die Anerkennung des zusätzlichen generativen Beitrags zur Pflege von Eltern.
Der Idee von Steuerzuschüssen steht der Familienbund skeptisch gegenüber – zumindest, solange nicht deutlich ist, wer durch die Steuerfinanzierung zusätzlich belastet werden soll. Zum einen, weil die Gefahr besteht, dass damit überwiegend die Mittelschicht zur Finanzierung beiträgt[13], die derzeit bereits stark belastet ist. Zum anderen, weil damit erneut das Gros der Familien einen weiteren Beitrag zur Pflegeentlastung leistet, ohne dass sie angesichts ihrer vielfältigen Unterstützung des Pflegesystems mittels der Erziehung künftiger Beitragszahler:innen, der Übernahme enormer Pflegeverantwortung sowie der finanziellen Unterstützung der Pflegebedürftigen von der Solidargemeinschaft selbst angemessen entlastet würden.
Generell sollte geprüft werden, inwiefern der ursprüngliche Gedanke der Pflegeversicherung, es handle sich dabei lediglich um eine Teilversicherung mit geringer Beitragshöhe unter den sich abzeichnenden gesellschaftlichen und demografischen Veränderungen noch realistisch ist und welche Anpassungen vor diesem Hintergrund in Form eines „großen Wurfs“ nötig sind.
Bei dem vorgelegten Gesetzentwurf handelt es sich auf jeden Fall nicht um die eigentlich nötige große Reform im Bereich der Pflegeversicherung. Bewegt werden vor allem kleinere und mittlere Stellschrauben, um das System vor dem finanziellen Zusammenbruch zu bewahren. Es bleibt dabei die Schieflage bestehen, dass Familien in mehrfacher Hinsicht enorme Leistungen für die Pflege erbringen, dafür aber kaum Anerkennung und finanzielle Entlastung seitens der öffentlichen Hand erfahren. Im Gegenteil entsteht vielmehr der Eindruck, dass sie fortgesetzt und ganz selbstverständlich der finanzielle wie pflegerische Notnagel des Systems sind. Denn auch bei Steuerzuschüssen oder dem geplanten Pflegevorsorgefonds sind es die Familien, die dann erneut einen weiteren, zusätzlichen Beitrag in die Pflegeversicherung leisten. Es ist fraglich, wie lange dieser Lösungsansatz angesichts des demografischen Wandels und der zunehmenden Überlastung der Familien noch trägt.
[1] DIW Wochenbericht 46/2020, S.853-860.
[2] Statistisches Bundesamt, Pflegebedürftige in Deutschland nach Art der Versorgung. Stichtag 31.12.2021
[3] Statistisches Bundesamt, Pflegebedürftige in Deutschland. Stichtag 31.12.2021
[4] BVerfG, Urteil vom 03.04.2001 - 1 BvR 2014/95 -, Rn. 1-93.
[5]Dass nach der Kinderzahl differenziert werden muss, war bereits nach der Argumentation des Urteils von 2001 sehr naheliegend. Im aktuellen Urteil hat das Bundesverfassungsgerichts das ausdrücklich klargestellt.
[6] Gesetzentwurf, BT-Drs. 20/6544, S. 83.
[7] Im Jahr 2022 lag das sozialversicherungsrechtliche Durchschnittseinkommen bei 38.901 Euro brutto.
[8] Zum Vergleich: Im Modell des Familienbundes, das eine Entlastung über Freibeträge für Familien vorsieht, beträgt die Entlastung pro Kind auf Basis des rentenrechtlichen Durchschnittseinkommens rund 30 Euro/Monat. Die Entlastung für das erste Kind läge bei dem zukünftig 0,6 Prozentpunkte höheren Beitrag für Kinderlose bei etwa 20 Euro/Monat.
[9] Gesetzentwurf, BT-Drs. 20/6544, S. 41, unten
[10] BVerfG, Urteil vom 03.04.2001 - 1 BvR 2014/95 -, Rn. 1-93.
[11] Gesetzentwurf, BT-Drs. 20/6544, S. 1
[12] Gesetzentwurf, BT-Drs. 20/6544, S. 101
[13] Das Steuersystem belastet vor allem die arbeitende Mittelschicht, während es unter anderem sehr hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften nur ungenügend berücksichtigt. Aus Sicht des Familienbundes wären daher entsprechende Reformen im Steuerrecht selbst dringend notwendig.
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