Experten warnen vor hohen gesundheitlichen Risiken für Kinder und Jugendliche während der Corona-Krise. So seien diese deutlich häufiger als vor dem Lockdown in Notaufnahmen von Kinder- und Jugendpsychiatrien (KJP) vorstellig. Schwere Depressionen, Angststörungen, akute suizidale Gefährdungen und andere Krankheitsbilder hätten bei ihnen vor allem ab dem vierten Quartal 2020 zugenommen, wie Anfragen der Zeitung "Die Welt" (Samstag) bei deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrien ergaben.
Der Ärztliche Direktor der KJP am Uniklinikum Tübingen, Professor Tobias Renner, sagte dem Blatt, im vierten Quartal 2020 sei seine Notfallversorgung "so stark beansprucht wie nie zuvor" gewesen. Es habe dort "eine Steigerung der Aufnahmen von mehr als 30 Prozent" gegeben. Die Notfallquote betrage für diesen Zeitraum 86 Prozent. "Das heißt, 86 Prozent der stationär behandelten Kinder und Jugendlichen kamen in der akuten Krise." Die meisten seien "akut suizidgefährdet" gewesen. Bei akut behandlungsbedürftiger Magersucht "lag der Anstieg bei 100 Prozent gegenüber dem Vorjahr".
Reta Pelz, Chefärztin in der KJP der Mediclin-Klinik in Offenburg, sagte: "Seit Januar sind wir durchweg um 110 bis 120 Prozent überbelegt." Die Schwere der Störungsbilder habe zugenommen: "Kinder, die aus einer tiefen Traurigkeit nicht mehr rauskamen, die keinen Grund zum Weiterleben, keine Perspektive entwickeln können, sahen wir mehr als sonst." Und: "Momentan erleben wir eine massive Zunahme von Essstörungen, vor allem bei Mädchen. Von 2020 auf 2021 hat sich das verdoppelt, wenn nicht verdreifacht. Im stationären Bereich macht dieses Störungsbild 40 Prozent der Patienten aus."
Auch der Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen während der Corona-Krise wird problematisch gesehen. "Fast jedes zehnte Kind unter 14 Jahren, das bisher normalgewichtig war, hat im vergangenen Jahr Übergewicht entwickelt", sagte der Vorsitzende der Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Berthold Koletzko, der "Welt am Sonntag". Besonders betroffen seien Kinder aus sozial benachteiligten Familien.
"Zu wenig Bewegung bei Kindern kann langfristig zu schweren gesundheitlichen Folgen führen. Wir beobachten die aktuelle Entwicklung mit Sorge. Wir hoffen, dass, sobald die Krise vorüber ist, schnell gegengesteuert wird", sagte der Chef des Koblenzer Versicherers Debeka, Thomas Brahm.
Gleichzeitig wirken sich das fehlende Sportangebot und die mangelnde Tagesstruktur auch auf die seelische Gesundheit der Heranwachsenden aus. "Viele beschäftigen sich den ganzen Tag mit ihrer Figur und ihrem Gewicht und haben so stark Angst zuzunehmen, dass sie eine Essstörung entwickeln", sagte die Direktorin der Aachener Uniklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Beate Herpertz-Dahlmann. Allein im vergangenen Quartal sei die Zahl der Magersüchtigen um 25 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestiegen: "Viele Patienten befinden sich in einem beängstigenden Zustand." Neben Magersucht litten viele unter Essattacken oder Bulimie. (KNA)