29.07.2022
Familiengerechtigkeit in der Sozialversicherung - Kurzfassung -
I. Was ist das Problem?
Die Sozialversicherung in Deutschland basiert überwiegend auf dem Umlageverfahren. Sie setzt die Existenz von Kindern voraus, die als zukünftige Beitragszahler:innen die Leistungen der dann Anspruchsberechtigten finanzieren. Das gilt für die Kranken-, die Pflege- und die Rentenversicherung gleichermaßen, wobei die Notwendigkeit nachfolgender Generationen bei der Rente besonders deutlich wird: Anders als vielfach vermutet, werden die heute eingehenden Rentenbeiträge nicht für die künftige eigene Rente angespart sondern unmittelbar für die Finanzierung der laufenden Rentenzahlungen verwendet. Für diese Beitragsleistung erwerben die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler den Anspruch, später selbst eine Rente zu erhalten - die dann wiederum von der nachkommenden Generation finanziert werden muss.[1]
Die Rentenversicherung basiert damit auf zwei Komponenten:
- auf den finanziellen Beiträgen der Erwerbstätigen an die heutige Rentengeneration (monetäre Beiträge)
- auf der Voraussetzung, dass es weiterhin eine ausreichend große Zahl an Kindern als zukünftige Beitragszahler gibt und damit auf der Erziehungsleistung von Eltern (generative Beiträge).
Obwohl beide Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung zwingend und gleichermaßen wichtig sind, stellt das Rentensystem aktuell überwiegend auf die monetären Beiträge ab: Wer viel Erwerbsarbeit leistet und ein hohes Einkommen erzielt, erwirbt höhere eigene Rentenansprüche. Wer sich dagegen für Kinder entscheidet und deswegen seine Erwerbstätigkeit reduziert, leistet ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung des Rentensystems erwirbt aber im Vergleich deutlich geringere Rentenansprüche.
Wie für die Rente gilt auch für die Sozialversicherungszweige der Kranken- und Pflegeversicherung, dass sie auf nachkommende Generationen angewiesen sind, aber diese für das Sicherungssystem zwingend notwendige Leistung nicht oder nur sehr unzureichend honorieren. In beiden Versicherungen finanzieren Beiträge der jüngeren Generation die Leistungen der älteren Generation – in der sozialen Pflegeversicherung fast ausschließlich, in der gesetzlichen Krankenversicherung überwiegend, da im Alter der weitaus größte Teil der Kosten anfällt.
II. Aus der Perspektive der Nachhaltigkeit des Sozialsystems problematisch
Damit besteht in den Sozialversicherungen und ganz besonders bei der Rente ein offensichtliches Nachhaltigkeitsproblem: das System setzt ökonomische Anreize für seine eigene Destabilisierung. Das Umlagesystem braucht beide Beiträge: den monetären (einkommensabhängige Rentenbeiträge) und den generativen (Kinder). Mit Blick auf die spätere eigene Rente ist es allerdings ökonomisch vorteilhafter, allein auf die Erwerbstätigkeit und ein möglichst hohes Einkommen zu setzen, während die Erziehungsleistung für Kinder sich aus dieser Perspektive nicht lohnt, sondern durch Erwerbsunterbrechungen vermehrt zu Renteneinbußen führt. Dadurch fehlen dem System jedoch die zukünftigen Beitragszahler:innen.
Wie wichtig Kinder zur Stabilisierung des Rentensystems für die Sozialversicherung insgesamt sind, zeigen Berechnungen, nach denen Anfang der 1960er Jahre noch sechs aktiv Versicherte auf einen Rentner kamen, in den 1970ern vier, Anfang der 1990er Jahre bereits weniger als drei, während heute einem Altersrentner nur noch rund zwei Beitragszahler gegenüberstehen.[2] Ökonomische Berechnungen zeigen zudem den hohen Wert, den jedes heute geborene Kind für die Rentenversicherung hat. Es lässt sich zeigen, dass Kinder in ihrem Lebensverlauf deutlich mehr einzahlen, als sie selbst als Rentner:in an Zahlungen erhalten werden. Jedes Kind bedeutet für die gesetzliche Rentenversicherung ein durchschnittliches Plus in Höhe von 77.000 Euro (inkl. der Effekte aller Nachfahren sogar 158.300 Euro).[3] Für eine nachhaltige Sicherung des Rentensystems ist es daher zwingend, Kinder und deren Erziehung als einen systemrelevanten Beitrag deutlich stärker anzuerkennen als bisher.
III. Was muss sich ändern?
Häufig wird vorgeschlagen, die bestehende systematische Schieflage durch den weiteren Ausbau der Erwerbstätigkeit von Frauen bzw. Müttern und Älteren aufzufangen. Dieser Ansatz kann angesichts des massiven demografischen Finanzierungsproblems ein Lösungsbaustein sein, ist jedoch für sich allein nur eine kurzsichtige Lösung, denn damit ließen sich zwar die Beitragszahlungen in der Gegenwart erhöhen, aber das Fehlen zukünftiger Generationen für die langfristige Sicherung der Rente nicht verhindern. Im Gegenteil ist sogar zu befürchten, dass ein wachsender Erwerbsdruck auf Eltern viele Paare und Frauen angesichts knapper werdender Zeit und höherer Arbeitsbelastung davon abhalten wird, sich für ein Kind bzw. weitere Kinder zu entscheiden. Außerdem erhöhen sich mit der Ausdehnung des Arbeitsumfangs[4] insbesondere von Müttern noch einmal die Beitragsleistungen von Familien für das Rentensystem. Einer weiteren Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Rentenbeziehenden und Beitragszahlenden allein mit Forderungen nach einer Ausweitung der Erwerbstätigkeit von Müttern, Frauen und Älteren zu begegnen, setzt ein Spirale in Gang, die Familien absehbar über die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit hinausführt.
Bisher fehlt es im aktuellen Rentensystem insgesamt an sozialer Gerechtigkeit gegenüber Familien. Erzielen zwei Personen den gleichen Brutto-Verdienst, wird der gleiche Sozialversicherungsbeitrag abgezogen – unabhängig davon, ob eine Person durch die Kindererziehung bereits einen weiteren Beitrag zur Rentenversicherung leistet und ungeachtet auch der Tatsache, dass durch die Unterhaltspflicht gegenüber den Kindern die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist.[5]
Um mehr Familiengerechtigkeit in der Sozialversicherung zu erreichen, strebt der Familienbund eine Reduzierung der Sozialversicherungsbeiträge für erwerbstätige Eltern an. Als naheliegende Lösung für eine kindorientierte Beitragsgestaltung, die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht[6], schlägt der Familienbund vor, die bereits erprobte Idee eines Kinderfreibetrags aus dem Steuerrecht auch auf die Sozialversicherung zu übertragen. Eltern würden damit spürbar entlastet. Sie würden dann in der aktiven Familienphase nur noch auf den über das Existenzminimum der Familie hinausgehenden Teil ihres Einkommens Sozialversicherungsbeiträge zahlen und hätten mehr von ihrem Einkommen zur Finanzierung des Familienalltags zur Verfügung. Die monatliche Ersparnis würde nach Berechnungen des Familienbundes bis zu rund 240 Euro im Monat betragen. Damit würde für viele Familien auch die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen sinken. Ein abgabenfreies Existenzminimum würde auch vermeiden, dass die öffentliche Hand zunächst durch Sozialabgaben sozialrechtliche Bedürftigkeit erzeugt und dieser dann durch Sozialleistungen abhelfen muss.
IV. Was schlägt der Familienbund konkret als Lösung vor?
Bisher wird die Erziehung von Kindern als tragende Säule des Rentensystems nicht angemessen in der Rentenversicherung berücksichtigt. Der Familienbund will das ändern und schlägt vor, einen Freibetrag analog zum Steuerrecht auch in der Sozialversicherung einzuführen. Vom Einkommen würde zunächst für jedes in der Familie lebende Kind ein Betrag in Höhe des im Steuerrecht definierten Kinderexistenzminimums abgezogen (sächliches Existenzminimum plus BEA-Freibetragsteil: 8.388 Euro im Jahr 2022). Erst auf ihr so reduziertes Einkommen müssten Eltern dann Sozialversicherungsbeiträge zahlen.
Damit sinkt die Höhe der Beiträge, was zu einer deutlichen Entlastung der Familien führt. Damit jedoch die eigenen Rentenansprüche aufgrund geringerer Beitragszahlungen nicht sinken, sondern eine wirkliche Aufwertung des Beitrags der Kindererziehung entsteht, wird der persönliche Rentenwert (RW) weiterhin auf der Basis des Gesamteinkommens ermittelt. Diese Regelung sollte aus Sicht des Familienbunds für jedes kindergeldberechtigte Kind und damit nur bei existierender Unterhaltsverpflichtung der Eltern gelten. Entfallen die Voraussetzungen für den Kindergeldbezug, entfällt auch die Möglichkeit, den Kinderfreibetrag in der Sozialversicherung zu nutzen.
Auf diese Weise lassen sich mehrere Ziele gleichzeitig erreichen:
- Soziale Gerechtigkeit: Der generative Beitrag wird als eigener Beitrag mit Wert im aktuellen Rentensystem angemessen berücksichtigt. Die Entlastung ist dabei (aufgrund des nicht-progressiven Beitragssatzes) für jedes Kind gleich und gilt nur, solange Unterhaltsverpflichtungen für das Kind bestehen.
- Generationengerechtigkeit: Mit der finanziellen Anerkennung des generativen Beitrags wird das Umlageverfahren, das zwingend eine nachwachsende Generation von Beitragszahler*innen erfordert, gestützt. Das Rentensystem wird gestärkt und stabilisiert.
- Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit: Die Unterhaltspflichten gegenüber Kindern werden bei der Beitragsbemessung berücksichtigt. Familien steht durch das Absinken der Beiträge mehr von ihrem monatlichen Einkommen zur Verfügung. Für sie zahlt sich der generative Beitrag direkt aus – und zwar dann, wenn sie ihn selbst am dringendsten brauchen: in der Gegenwart.
- Rücksicht auf Vielfalt der Familien: Von dieser Neuregelung profitieren alle Familien mit Kindern, egal ob es sich um Ehen, Lebenspartnerschaften, zusammenlebende Paare oder Alleinerziehende handelt. Alleinerziehende, die von ihrem Ex-Partner keinen Unterhalt erhalten, könnten den gesamten Freibetrag geltend machen.
Mit der angestrebten Beitragsreform will der Familienbund den doppelten Beitrag von Familien in der Sozialversicherung anerkennen. Es geht nicht darum, andere Lebenssituationen oder Lebensentscheidungen zu bewerten, sondern darum, die unterschiedlichen ökonomischen Belastungen zu berücksichtigen und für Leistungs- und Generationengerechtigkeit bei der Renten-, der Kranken- und der Pflegeversicherung zu sorgen.
V. Was sagt das Bundesverfassungsgericht dazu?
Das Bundesverfassungsgericht hat sich bereits mehrfach mit der Situation der Familien in der Sozialversicherung und der Beitragsgestaltung für Familien befasst. Daraus sind zentrale Reformforderungen des Bundesverfassungsgerichts entstanden. Es hat bereits 1992 ein Missverhältnis zwischen einem hohen generativen Beitrag und der niedrigen Rente einer klagenden Mutter[7] als ungerecht und verfassungswidrig bewertet. Zudem sah es im Grundgesetz den Auftrag an den Gesetzgeber, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung „mit jedem Reformschritt die Benachteiligung der Familie tatsächlich verringert“ werden müsse. Zudem sah es einen Ausgleich für generative Beiträge als notwendig an, der notfalls auch zu Lasten kinderloser und kinderarmer Personen gehen könnte.[8] Konkret zur Pflegeversicherung hatte das Bundesverfassungsgericht – nach der Argumentation des Gerichts übertragbar auf alle Umlageverfahren – im Jahr 2001 entschieden, dass bei Familien aufgrund des generativen Beitrags der monetäre Beitrag reduziert werden muss.[9]
Nachdem der Gesetzgeber nach dem Urteil von 2001 nur in der sozialen Pflegeversicherung ein geringfügige Anpassung vorgenommen und in der Renten- und Krankenversicherung gar keinen Änderungsbedarf gesehen hat, haben – unterstützt vom Familienbund und dem Deutschen Familienverband – Familien Klage erhoben. Am 25. Mai 2022 hat das Bundesverfassungsgericht nach 16 Jahren Klageweg über die Musterklagen von drei Familien entschieden. Es gibt der Argumentation des Familienbundes und der drei Familien teilweise recht und sieht in der Pflegeversicherung eine spezifische Benachteiligung von Familien mit mehreren Kindern. Diese müssen zukünftig bei den Beiträgen gestaffelt nach der Kinderzahl entlastet werden. Der Gesetzgeber ist nun zu einer Reform der Beiträge bis zum 31. Juli 2023 aufgefordert. Der Familienbund wird seine Vorstellungen einer gerechten Beitragsgestaltung in diesen Prozess mit einbringen.
In der Renten- und Krankenversicherung sieht es das Bundesverfassungsgericht anders. Trotz des generativen Beitrags der Familien hat es die derzeitige Ausgestaltung der Beitragserhebung im Ergebnis als (noch) verfassungsgemäß eingestuft und die Beitragsentlastung für Familien damit zu einer Frage der politischen Gestaltung erklärt.
Auch wenn nach dieser Entscheidung eine familiengerechte Neugestaltung der Beiträge in der Rente verfassungsrechtlich nicht zwingend ist, bleibt sie aus Sicht des Familienbundes ein politisch notwendiger Auftrag. Angesichts des demografischen Wandels braucht es eine strukturelle Reform der gesetzlichen Sozialversicherung, die die Erziehung von Kindern als Beitragsleistung anerkennt und gerecht bewertet.
[1] Erklärung des Bundesfinanzministeriums, siehe www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Glossareintraege. Die Deckung der laufenden Rentenzahlungen erfolgt zusätzlich zu den Beiträgen mithilfe eines Steuerzuschusses des Bundes.
[2] Demografieportal der Bundesregierung, https://www.demografie-portal.de/DE/Fakten/altersrentner-beitragszahler.htm (abgerufen am 27.07.2022).
[3] Vgl. die Studie von Prof. Dr. Martin Werding: Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung, S.39 f.
[4] Im Jahr 2018 waren 69 Prozent aller Mütter erwerbstätig. Davon waren knapp 50 Prozent in Vollzeit oder großer Teilzeit (ab 28 Wochenstunden) berufstätig. Vgl. BMFSFJ, (Existenzsichernde) Erwerbstätigkeit von Müttern. Monitor Familienforschung, Ausgabe 41, Mai 2020.
[5] Das Prinzip der Leistungsfähigkeit besagt, dass sich eine öffentliche Abgabe stets nach der jeweiligen wirtschaftlichen Situation bemessen sollte. Für Familien gilt dieser Grundsatz bei der Rente derzeit nicht.
[6] Urteil des BVerfG vom 07. Juli 1992, Urteil des BVerfG vom 03. April 2001.
[7] Im sogenannten „Trümmerfrauenurteil“ des BVerG vom 07. Juli 1992 hatte die Klägerin, Rosa Rees, zehn Kinder bekommen, die monatlich zusammen 8.500 DM in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlten. Rees Rente betrug dagegen monatlich 346 DM, wogegen sie erfolgreich klagte.
[8] Das BVerfG hat sogar eine „maßvolle“ Umverteilung bereits erworbener Rentenansprüche zugunsten von Familien für verfassungsrechtlich zulässig gehalten: „Der Schutz der Rentenanwartschaften durch Art. 14 Abs. 1 GG [Eigentumsschutz] steht einer maßvollen Umverteilung innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung zu Lasten kinderloser und kinderarmer Personen nicht entgegen“.
[9] „Es ist mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Bei-trag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden“. Pflegeurteil der BVerfG vom 03. April 2001.
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