Im Corona-Jahr 2020 haben die Jugendämter in Deutschland bei fast 60.600 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Dies ist eine Rekordzahl, wie das Statistische Bundesamt am Mittwoch in Wiesbaden mitteilte. Es waren rund 5.000 Fälle oder neun Prozent mehr als 2019. Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen habe 2020 den höchsten Stand seit Einführung der Statistik erreicht, hieß es.
Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht (SPD) sprach in Berlin von einem "traurigen Ausmaß an Kindeswohlgefährdungen". Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, nannte die Zahlen erschreckend und fügte hinzu: "Hier hat der Staat auf ganzer Linie dabei versagt, die Schwächsten unserer Gesellschaft zu schützen."
Die meisten der betroffenen Kinder wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf (58 Prozent), so das Statistische Bundesamt. Bei rund einem Drittel aller Fälle (34 Prozent) wurden Hinweise auf psychische Misshandlungen gefunden - "beispielsweise in Form von Demütigungen, Einschüchterungen, Isolierung und emotionaler Kälte". In 26 Prozent der Fälle gab es Indizien für körperliche Misshandlungen und in 5 Prozent Anzeichen für sexuelle Gewalt. Im Vergleich zum Vorjahr fiel die Zunahme bei psychischen Misshandlungen besonders stark aus. Hier gab es einen Anstieg um 17 Prozent oder 3.100 Fälle.
Lambrecht sagte weiter, wegen der Pandemie hätten die Belastungen und das Konfliktpotenzial in den Familien durch geschlossene Kitas und Schulen und durch Homeschooling zugenommen. "Und wir müssen leider davon ausgehen, dass das Dunkelfeld noch höher ist", so die Ministerin. Bereits 2018 und 2019 war die Zahl der Kindeswohlgefährdungen deutlich gestiegen - und zwar um jeweils zehn Prozent.
Der Statistik zufolge war 2020 etwa jedes zweite gefährdete Kind jünger als acht Jahre (51 Prozent) und jedes dritte sogar jünger als fünf Jahre (33 Prozent). Die meisten betroffenen Minderjährigen wuchsen demnach bei alleinerziehenden Elternteilen (43 Prozent) auf.
Lambrecht sagte, die jetzige Statistik sei "ein weiterer wichtiger Grund dafür, künftig Schulen und Kitas geöffnet zu halten". Denn diese Einrichtungen hätten auch eine "bedeutsame Schutzfunktion" für Kinder und Jugendliche.
Die Statistiker erklärten, dass neben einer "zunehmenden Sensibilisierung der Bevölkerung für den Kinderschutz" die Belastungen von Familien infolge der Lockdowns ein Grund für den Anstieg der Zahlen gewesen sein könnten. Nicht auszuschließen sei, dass ein Teil der Fälle, etwa aufgrund von vorübergehenden Schulschließungen, unentdeckt geblieben sei. Die Behörden könnten nur solche Fälle zur Statistik melden, die ihnen bekannt gemacht würden, wobei auch diese Zahl gewachsen sei: Bundesweit prüften die Jugendämter demnach 2020 knapp 194.500 Verdachtsmeldungen in einer "Gefährdungseinschätzung" - 12 Prozent mehr als 2019 (plus 21.400 Fälle).
Die meisten der rund 194.500 Gefährdungseinschätzungen seien aus der Bevölkerung sowie von Polizei oder Justizbehörden angeregt worden. Die Bevölkerung scheine "im Corona-Jahr 2020 erheblich wachsamer geworden zu sein", so die Statistiker. Gegenüber 2019 seien die Hinweise von Verwandten, Bekannten, Nachbarn und anonymen Meldern um 9.100 Fälle (21 Prozent) gestiegen. Verdachtsmeldungen von Schulen seien hingegen um 1,5 Prozent zurückgegangen. (KNA)