Die Erziehungswissenschaftlerin Karin Böllert hat mehr Anerkennung für junge Menschen in der Corona-Pandemie gefordert. Für die Politik hätten Kinder und Jugendliche über ein Jahr lang keine Rolle gespielt, sagte die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) im ZDF-Morgenmagazin (Dienstag). "Und wenn sie sich nicht selber laut geäußert und ihre Wahrnehmung eingefordert hätten, würde sich heute noch keiner damit auseinandergesetzt haben, wie es jungen Menschen in der Pandemie geht", kritisierte Böllert.
Das von der Politik aufgelegte Programm "Aufholen nach Corona" mit einem Umfang von zwei Milliarden Euro nannte sie einen "wichtigen Schritt in die richtige Richtung". Doch sei das Programm zu stark an schulischen Defiziten orientiert, während mehr Geld für die Kinder- und Jugendhilfe erforderlich wären, so die Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Universität Münster.
Mit Blick auf zahlreiche junge Menschen, die in diesem Jahr laut Prognosen ohne Abschluss bleiben, seien nun "alle gefordert", sie in Ausbildung und Arbeitswelt zu begleiten, sagte Böllert. Auch angesichts eines weiter bestehenden Fachkräftemangels könne man es sich nicht leisten, "100.000 junge Menschen jährlich aufzugeben".
Von einem verlorenen Jahrgang zu sprechen, wies Böllert zurück: Junge Menschen wollten "keine Corona-Generation" sein oder "über Corona stigmatisiert werden", so die Professorin. Sie hätten viel geleistet in den letzten Monaten und wollten dafür eine Anerkennung haben. "Ich kann den jungen Menschen da nur Recht geben", sagte Böllert.
Verlorene soziale Kontakte seien jedoch kaum nachzuholen. "Wer die Abifeier verpasst hat, wer den Schulabschluss nicht feiern konnte, wer keine Studentenparty erlebt hat, wird, wenn wieder alles analog ist, nicht jeden Tag drei Parties feiern können, um die Parties vom letzten Jahr nachzuholen", so die Wissenschaftlerin. "Aber wir sind ja auf einem guten Weg, das wieder möglich zu machen."
Immerhin seien viele Kinder und Jugendliche durch die Pandemie stark geworden in ihrer Selbstorganisation, gab Böllert zu bedenken. "Das sind Kompetenzen, auf die die Gesellschaft und der Arbeitsmarkt aufbauen können", so die Expertin. "Das könnte etwas sehr Positives sein, das aus Corona letztendlich überlebt." (KNA)