Berlin, den 28. Oktober 2019 – „Familien- und arbeitsmarktpolitisch herrscht seit Jahren ein Stillstand bei der zentralen Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, von Sorge- und Erwerbsarbeit. Das ist ein zeitpolitisches Armutszeugnis für das mit Abstand drängendste Problem von Familien hierzulande“, erklärte der Präsident des Familienbundes der Katholiken, Ulrich Hoffmann, gestern auf der 132. Bundesdelegiertenversammlung des Verbandes in Berlin. „Das Diktum einer arbeitsmarktzentrierten und wirtschaftspolitisch getriebenen Familienpolitik muss ein Ende finden. Die Menschen, insbesondere Eltern, wollen und brauchen eine zukunftsweisende Zeitpolitik, die dem Anspruch einer sorgenden Gesellschaft gerecht wird. Familie darf keiner politischen Zweckrationalität mehr folgen. Familie ist ein Wert an sich!“ Das Treffen vom 25. bis 27. Oktober 2019 stand unter dem Titel „Innovative Konzepte für eine familienfreundliche Zeitpolitik“.
Die Wissenschaftlerin und ehemalige Leiterin der Abteilung Familienpolitik des Deutschen Jugendinstituts (DJI), Karin Jurczyk, wies in ihrem Vortrag „Familienzeitpolitik – neue Impulse gegen den Stillstand“ auf der Tagung des Familienbundes darauf hin, dass Familien heute mehr unter Zeit- als unter Geldmangel litten. „Eine gleichzeitige Zunahme der Erwerbsarbeit und der Zeit mit Kindern führt bei Eltern zu wachsender Erschöpfung, insbesondere von Müttern. Auch bei Vätern ist das Vereinbarkeitsproblem angekommen. Allerdings erweist sich für Väter Teilzeitarbeit als Karrierekiller.“ Mehr noch als Geld wünschen sich heute nach den Worten von Jurczyk 57 Prozent der Eltern mehr Zeit als Geld für die Verwirklichung eines gelingenden Familienlebens.
„Die klassischen Erwerbsbiografien sind nicht mehr zeitgemäß“, erklärte Jurczyk. Sie müsse durch ein Optionsbudget für jede Person ersetzt werden, bei dem sechs von neun Jahren einer Zweckbindung für social care unterliegen sollen. Jurczyk plädierte für die Einführung sogenannter „atmender Lebensläufe“. Für die damit verbundenen Sorgearbeitszeiten müsste es eine Lohnkompensation aus Steuermitteln geben. In diesem Zusammenhang fordert sie auch eine Aufstockung der SGB-II-Leistungen („Hartz-IV“) für Arme und Einkommensschwache.
„Der ungesunde Dreiklang von Zeitdruck, Hektik und Stress ist für viele Familien mit Kindern noch immer leidiger Alltag“
Auch die familienpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Katja Dörner, stellte in ihrem Vortrag fest, dass Zeit für Familien ein besonders rares Gut sei: „Der ungesunde Dreiklang von Zeitdruck, Hektik und Stress ist für viele Familien mit Kindern noch immer leidiger Alltag“, sagte die Familienpolitikerin. „Es fehlt an effektiven Instrumenten, damit die Menschen diese zeitpolitischen Herausforderungen besser oder überhaupt meistern können.“ „Betroffen von Zeitstress sind vor allem Mütter in Familienkonstellationen, in denen beide Partner erwerbstätig sind, sowie Alleinerziehende.“ Nötig sei mehr Zeitsouveränität. Konkret: gute Betreuungsangebote für Kinder, zum anderen eine familienfreundliche Arbeitswelt. „Familien brauchen mehr Gestaltungsmacht über ihre Zeit.“
Dörner plädierte für ein Konzept der „flexiblen Vollzeit“: „Wir wollen einen Arbeitszeitkorridor von 30 bis 40 Wochenstunden einführen, in dessen Rahmen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst über ihre Arbeitszeit entscheiden.“ „Damit bekommen Frauen und Männer mehr Selbstbestimmung über eines ihrer wichtigsten Güter zurück: ihre Zeit.“ Weiter sagte sie: „Wir wollen den bestehenden Rechtsanspruch auf Teilzeit um ein Rückkehrrecht auf den früheren Stundenumfang ergänzen. Die Formel: einmal Teilzeit, immer Teilzeit soll der Vergangenheit angehören. Außerdem können Beschäftigte mit einer flexiblen Vollzeit leichter als bisher ihre Arbeitszeiten an vorübergehende Bedarfe anpassen. Aber: Flexibilisierung ist keine Einbahnstraße. Bisher hat vor allem die Arbeitgeberseite Ansprüche an die Flexibilität ihrer Beschäftigten gestellt. Nun verlangen erwerbstätige Frauen und Männer wieder selbst mehr Einfluss auf ihre Zeit.“ „Wichtig ist, dass berufstätige Eltern – Väter wie Mütter – mehr Zeit für ihre Kinder haben und Erwerbs- und Familienarbeit fair untereinander aufteilen können.“
Das von den Grünen entwickelte Konzept der KinderZeitPlus „denkt das bewährte Eltern-geld weiter und ergänzt es um eine flexible Lohnersatzleistung über die ersten 14 Lebensmonate des Kindes hinaus, wenn die Eltern mindestens halbtags arbeiten“, sagte Dörner. Anstatt der bisherigen 14 Monate Elterngeld, sieht das Modell insgesamt 24 Monaten vor: acht Monate für den einen Elternteil und acht Monate für den anderen Elternteil. Acht weitere Monate können die beiden untereinander aufteilen. „Damit erhöhen wir die Beteiligung der Väter, wenn die Eltern die KinderZeitPlus voll ausschöpfen wollen“, so Dörner.
„Die Reduzierung gemeinsamer Zeit in der Familie reduziert die Bindungsfähigkeit von Familie“
Der Politologe und ehemalige Landesvorsitzende der ÖDP in Bayern, Bernhard Suttner, kritisierte in seinem Vortrag eine weit reichende Familienfeindlichkeit der Wachstums- und Beschleunigungsgesellschaft. Nach seiner Diagnose habe sich der Staat parteiisch auf die Seite der Wirtschaft geschlagen. „Die Familie ist heute bedroht durch totale Ökonomisierung und der verschwindenden Zeit für Familie.“ Suttner kritisiert vor allem auch die zunehmende Ausweitung der Randzeiten einer mehr und mehr institutionalisierten Kinderbetreuung mit fatalen Folgen: „Die Reduzierung gemeinsamer Zeit in der Familie reduziert die Bindungsfähigkeit von Familie.“ Er fordert: „Familie muss zumindest ein bezahlter Teilzeitarbeitsplatz werden.“ Suttner betonte die Bedeutung von Familien als Leistungsträger für die Gesellschaft. „Das, was Familie leistet, ist grundlegend für die Gesellschaft.“ Ein immenser Gewinn an Familienzeit und Entstressung ließe sich nach Suttners Ansicht vor allem in post-materiellen Lebensformen verwirklichen.
„Beziehung braucht gemeinsame Zeit, die nicht von anderen Aufgaben belastet ist“
Die Delegierten des Familienbundes der Katholiken verabschiedeten im Rahmen ihrer Tagung das Positionspapier „Unterstützung von Beziehungen in Gesellschaft, Staat und Kirche“. Darin heißt es: „Gelingende Beziehungen sind ein entscheidender Faktor für gelingendes Leben und die Zufriedenheit von Menschen. Eine stabile Paarbeziehung ist eine gute Grundlage für glückliche Familien und eine gute Erziehung von Kindern.“ In dem Papier sprechen sich die Delegierten für einen besseren Schutz für das Leben in Beziehungen aus: „Trennung und Scheidung sind in der Regel von Paaren nicht gewollt, sondern nicht selten mitverursacht durch ein beziehungsunfreundliches Umfeld. Auch mit Blick auf gesellschaftliche Folgekosten von Trennungen besteht Handlungsbedarf, um das Leben in Beziehungen zu ermöglichen und zu schützen.“
Kritik übt das Papier an den beziehungsfeindlichen Rahmenbedingungen der Gesellschaft: „Beziehung braucht gemeinsame Zeit, die nicht von anderen Aufgaben belastet ist. Insbesondere die Entgrenzung von Erwerbsarbeitszeiten in den Abend und das Wochenende hinein lässt dafür immer weniger Spielraum.“ Die Delegierten „fordern die Einhaltung des Sonntagsschutzes sowie die Erweiterung von Zeiten und Räumen, in denen Beziehung real gelebt werden kann durch Maßnahmen der Zeitpolitik, die Einführung von Arbeitszeitkonten und Langzeitarbeitskonten, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine Flexibilisierung zugunsten ihrer privaten Aufgaben und Kontakte erlauben, und die Förderung von Formen der Vergemeinschaftung.“
Nach dem Wortlaut des Papieres seien viele Paare und Eltern auch durch weitere gesellschaftliche Faktoren belastet. Dazu gehören „die ungleiche Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit“ sowie „der weitgehende Vorrang und die Bedingungen der Erwerbsarbeit vor allen anderen Bedürfnissen in Beziehung und Familie“. Die Delegierten fordern deshalb, „die Spielräume der Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zu erweitern, damit alle Familien eine für sie passende Aufteilung finden können“.