50 Kinder- und Menschenrechtsorganisationen appellieren an die Bundesregierung: Keine Kompromisse auf Kosten der Rechte und des Wohls geflüchteter Kinder bei der Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems!

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Kinderrechtlicher Appell zum Treffen der europäischen Innenminister*innen am 8. Juni: Keine Kompromisse auf Kosten der Rechte und des Wohls geflüchteter Kinder1

30 Jahre nach dem unter rechtspopulistischem Druck entstandenen, bislang schärfsten Einschnitt in das deutsche Asylrecht, dem Asylkompromiss von 1993, stehen grundlegende Menschen- und insbesondere Kinderrechte in den Verhandlungen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem aktuell erneut zur Disposition. Schon jetzt dokumentieren viele der unterzeichnenden Organisationen massive Gewaltausübung durch Grenzbeamte und mangelnden Kindesschutz entlang der Fluchtrouten und an den Außengrenzen der EU.2 Die Reformvorschläge werden die Situation nicht verbessern, sondern weitere, schwere Verletzungen von Kinder- und Flüchtlingsrechten begünstigen. Die unterzeichnenden Organisationen fordern zum nächsten Innenminister*innen-Treffens am 8. Juni, keine Kompromisse auf Kosten des Schutzes und der Rechte geflüchteter Kinder zu schließen.
Die Wahrung von Menschenrechten und Kindeswohl müssen die Leitlinien europäischer Politik sein. Das bedeutet:

1. Kein Kinderschutz-light – effektiver Rechtsschutz in Screening, Alterseinschätzung, Zuständigkeits- und Grenzverfahren, keine Haft oder haftähnliche Unterbringung von Kindern, keine Ausnahmen in Krisenfällen, Vormundschaft und Rechtsbeistand von Anfang an!
2. Keine Überstellung von Kindern in sog. „sichere Drittstaaten“, die nur auf dem Papier sicher sind, durch eine Ausweitung des Sichere-Drittstaaten-Konzepts!
3. Einhaltung des Vorrangs des Kindeswohls und des Rechts auf Familie - keine Überstellung von unbegleiteten Kindern unter dem Zuständigkeitsregime, keine Einschnitte bei innereuropäischen Familienzusammenführungen!

Die Verschärfungen im europäischen Asylrecht betreffen auch und insbesondere Kinder. Denn etwa ein Drittel der Asylantragstellenden in der EU ist minderjährig. Die Reformvorschläge könnten somit nicht nur die Abkehr vom Flüchtlingsschutz, sondern auch die Abkehr von allgemeingültigen Kinderrechten in der EU bedeuten. Maßgebliche, durch Unions- und Völkerrecht gedeckte Verfahrensgarantien fielen weg, bspw. bei der Alterseinschätzung. Auch das kinderrechtliche Verbot von Haft oder haftähnlicher Unterbringung würde verletzt. Ohne angemessene Möglichkeiten, rechtlich gegen fehlerhafte Entscheidungen vorzugehen, können die Rechte von Kindern zudem nicht geschützt, ihr Wohl nicht gewährleistet werden. Der sich durch alle Verordnungen ziehende Kindesschutz-light wird den Vorgaben der UN- Kinderrechtskonvention und der Europäischen Grundrechtecharta in keiner Weise gerecht.
Die aktuellen Reformvorschläge verschärfen im Wesentlichen die bereits existierenden Probleme des europäischen Asylsystems. Ungleiche Verantwortungsteilung und mangelnder politischer Wille in der EU führen derzeit zur Nichtanwendung von Regelungen und Verfahrensgarantien, die vulnerable Gruppen wie Kinder schützen sollten. Es ist abzusehen, dass die Reform daran nichts ändert, die Regelungen sind zu komplex für die Umsetzung. Die Verantwortung für Aufnahmen verbleibt weiterhin bei den Außengrenzstaaten. Auch die für Kinder extrem gefährliche sog. „Sekundärmigration“ wird durch die Reform voraussichtlich steigen. Kinder und Familien werden sich eigenständig auf die Weiterreise in der EU begeben, wenn ihnen die Verwirklichung des Rechts auf Familie verwehrt wird.
Wir fordern die Bundesregierung auf, …
… gegen Grenzverfahren zu stimmen, insbesondere bei ihrem „Nein“ zu Grenzverfahren bei Kindern bis 18 Jahre zu bleiben.

Insbesondere Kinder müssen in Asylverfahren unter psychosozialer Betreuung in einer kinderfreundlichen und sicheren Umgebung ihre Fluchtgründe vortragen können. Dies kann unter den Bedingungen des Grenzverfahrens - insbesondere bei kindspezifischen Fluchtgründen wie Genitalverstümmelungen oder Zwangsrekrutierungen - nicht sichergestellt werden.
Eine Ausnahme aller Kinder sowie Familien vom Grenzverfahren – das umfasst auch minderjährige und volljährig gewordene Geschwister – ist unserer Ansicht nach unabdingbar. Willkürlich gezogene Altersgrenzen verletzen die Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention. Diese schützt alle Personen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres in gleichem Maße. Die Anwendung von Grenzverfahren an die Erfolgswahrscheinlichkeit von Verfahren aus dem jeweiligen Herkunftsland (Schutzquote) zu knüpfen, stellt zudem eine unrechtmäßige Diskriminierung gem. Art. 2 UN-KRK dar. Zu Recht hat sich die Bundesregierung daher in ihrer Position dazu bekannt, sich dafür einzusetzen, Minderjährige vom Grenzverfahren auszunehmen. Diese Position darf nicht aufgegeben werden.
Die unterzeichnenden Organisationen warnen zudem davor, dass Grenzverfahren voraussichtlich nicht nur dann angewendet werden, wenn sie verpflichtend sind, sondern wenn sie rechtlich zulässig sind. Werden zudem die Anforderungen an „sichere Drittstaaten“ wie geplant massiv abgesenkt, können praktisch alle in der EU ankommenden Schutzsuchenden, also auch Minderjährige, zur Prüfung der Zulässigkeit ihres Asylantrags ins Grenzverfahren geschickt werden. Grenzverfahren sind kein Ort für Kinder.
… gegen Haft und haftähnliche Bedingungen bei Kindern bis 18 Jahre zu stimmen.
Eine bis zu 40 Wochen andauernde Unterbringung in geschlossenen oder faktisch geschlossenen Einrichtungen in Screening- oder Grenzverfahren, die durch die sog. “Fiktion der Nicht-Einreise" ermöglicht wird, entspricht niemals dem Kindeswohl und kann schwerwiegende Folgen für die psychische Gesundheit von Kindern haben. Selbst kürzere Zeiten in Haft oder haftähnlicher Unterbringung sind für Kinder aufgrund ihres intensiveren Zeitgefühls immens belastend und können langfristige Folgen haben. Jeder Tag, an dem Kinder zur Migrationskontrolle inhaftiert werden, verletzt zudem das Recht auf Schutz vor Folter und Freiheitsentzug aus Art. 37 der UN-Kinderrechtskonvention. Haft besteht dabei nicht nur, wenn sie formal angeordnet wird. Vielmehr ergibt sich Haft auch aus den tatsächlichen Umständen der Festsetzung und Unterbringung in einem haftähnlichen Setting, wie es derzeit auf Kos zu beobachten ist.3 Es braucht expliziteGarantien dafür, dass kein Kind aufgrund seines Aufenthaltsstatus oder dem seiner Eltern inhaftiert wird.
… gegen die Aufhebung effektiven Rechtschutzes zu stimmen.
Effektiver Rechtsschutz muss zu jedem Verfahrensschritt gegeben sein. Nicht vereinbar ist damit beispielsweise, dass Rechtsmittel gegen Entscheidungen im Grenzverfahren keine aufschiebende Wirkung haben und auf eine Instanz beschränkt sein sollen. Auch müssen sich Kinder gegen fälschliche Entscheidungen zur Alterseinschätzung und gegen fehlerhafte Feststellungen im Screening-Verfahren wehren können – gegen beides ist jedoch nach den Reformvorschlägen kein Rechtsschutz geplant. Zugang zu Rechtsanwält*innen und juristischer Beratung ist zudem unzureichend geregelt. Ohne angemessene Möglichkeiten, Rechtsmittel einzulegen, können die Rechte von Kindern nicht geschützt und damit ihr Wohl nicht gewährleistet werden.
… gegen die Ausweitung des sicheren Drittstaatenkonzepts zu stimmen.
Die Konzepte des ersten Asylstaats und sicheren Drittstaats, wonach Asylanträge als unzulässig abgelehnt und auch Kinder in Drittstaaten zurückverwiesen werden können, bergen grundsätzlich die Gefahr von Verstößen gegen das Refoulement-Verbot, insbesondere da im Drittstaat kein Schutz gemäß der Genfer Konvention gelten muss. Schon jetzt führt das Konzept der sicheren Drittstaaten zu eklatanten Rechtsverletzungen in Außengrenzstaaten wie Griechenland. Im schlimmsten Fall bedeutet es einen Rückzug aus dem Flüchtlingsschutz in der EU. Es sollte deshalb keinesfalls ausgeweitet werden.
… gegen die Absenkung von kinderrechtlichen Verfahrensgarantien zu stimmen.
Unbegleitete Kinder müssen vom ersten Tag an vormundschaftliche Vertretung und rechtlichen Beistand haben. Dies sehen die unterzeichnenden Organisationen in den Reformvorschlägen nicht gewährleistet. Auch die bestehenden Verfahren zur Alterseinschätzung müssen dem Grundsatz „Im Zweifel für die Minderjährigkeit“ folgen. Nur so kann sichergestellt werden, dass Minderjährige den Schutz und die Betreuung erhalten, die ihnen zustehen. Im Grenzverfahren dürfen keine Alterseinschätzungsverfahren durchgeführt werden. Medizinische Methoden zur Alterseinschätzung dürfen nicht angewendet werden.
… gegen Rücküberstellungen von unbegleiteten Minderjährigen in der EU und die Einschränkungen bei innereuropäischen Familiennachzügen zu stimmen.
Mehrere Regelungen innerhalb der vorgeschlagenen Neuregelung der Dublin-III-Verordnung laufen dem Kindeswohlprinzip sowie dem Recht auf Familie zuwider. So hat der EuGH festgestellt, dass bei Minderjährigen aufgrund des Kindeswohlvorrangs nicht der Staat der ersten Registrierung des Asylgesuchs, sondern der Staat des tatsächlichen Aufenthalts für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, wenn keine Familienangehörigen sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten.4 Die in den aktuellen Reformvorschlägen enthaltene Änderung, unbegleitete Minderjährige in den Staat der Erstregistrierung des Gesuchs zu überstellen, verletzt eindeutig diese Rechtsprechung. Auch die geplante Verkürzung der Fristen bei innereuropäischen Familienzusammenführungen verletzen das Kindeswohlprinzip sowie das Recht auf Familie, insbesondere da gegen die Verwehrung der Rechte durch Fristablauf keine Rechtsmittel eingelegt werden können. Stattdessen führt die Fristverkürzung absehbar zu mehr gefährlicher Weiterwanderung innerhalb der EU.
… bei ihrem „Ja“ zum erweiterten Familienbegriff zu bleiben.
Die unterzeichnenden Organisationen begrüßen, dass sich die Bundesregierung für die Ausweitung des Konzepts der Kernfamilie auf (volljährige) Geschwister einsetzen wird. Die Ausweitung muss unbedingt Gegenstand der geplanten Reform bleiben. Geschwister gehören menschenrechtlich zur engsten Familie, ihr Verhältnis muss besonders geschützt werden.
… bei ihrem „Nein“ zur Integration der Instrumentalisierungs-VO in die Krisen-VO zu bleiben.
Die Bundesregierung hat es sich mit dem Koalitionsvertrag zum Ziel gemacht, „die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen [zu] beenden“. Dies ist nicht mit den Zielen und Inhalten der Instrumentalisierungs-VO vereinbar. Die Bundesregierung hat sich daher zu Recht entschlossen, sich gegen die Integration der Instrumentalisierungs-VO in die Krisen-VO einzusetzen. Europäische Vorschriften für Asylverfahren sowie für die Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden dürfen nicht unter das erträgliche Minimum abgesenkt werden. Die Instrumentalisierungs-VO fand unter den Mitgliedsstaaten Ende letzten Jahres aus gutem Grund keinen Konsens. Denn sie ist menschen- und kinderrechtlich nicht tragfähig und droht, an den Außengrenzen den schon bestehenden Ausnahmezustand rechtlich zu zementieren. Eine Aufnahme der Instrumentalisierungs-VO in die Krisen-VO ist daher durch die Bundesregierung weiterhin ausdrücklich abzulehnen.
 
1 Im Sinne der Kinderrechtskonvention umfasst der Begriff „Kinder“ alle Personen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.
2 Siehe bspw. Save the Children, Wherever We Go Someone Does Us Harm (2022).
3 tdh und ERBB, Inhaftierung statt Schutz: Unbegleitete Minderjährige werden ihrer Freiheit und Kindheit beraubt (Feb.2023).
4 Siehe EuGH, Urteil vom 06.06.2013 - C-648/11.

Unterzeichnende Organisationen, Stand 19. Juni 2023:
Amadeu Antonio Stiftung
Amnesty International Deutschland e.V.
Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein
AWO Bundesverband e.V.
Bordermonitoring.eu
Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit e.V.
Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge - BumF e.V.
Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer - BAfF e.V.
Bundesweite Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL
Bündnis Kinder- und Jugendgesundheit e.V. (Bündnis KJG)
Der Paritätische Gesamtverband
Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF e.V.)
Deutscher Caritasverband
Deutsches Kinderhilfswerk e.V.
Diakonie Deutschland
DISCOVER FOOTBALL
ECPAT Deutschland e.V.
Equal Rights Beyond Borders e.V.
Exil e.V.
Familienbund der Katholiken - Bundesverband
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
FORUM MENSCHENRECHTE – Netzwerk deutscher Menschenrechtsorganisationen
Frankfurter Arbeitskreis Trauma und Exil
Freizeit für junge Geflüchtete Exil e.V.
GRIPS Werke e.V.
IPPNW e.V. - Deutsche Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkriegs /Ärzt*innen in sozialer Verantwortung
International Rescue Committee IRC Deutschland
Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland
JUMEN e.V. - Juristische Menschenrechtsarbeit in Deutschland e.V.
Jugendliche ohne Grenzen e.V.
Kindernothilfe e.V.
KinderRechteForum (KRF)
#LeaveNoOneBehind
Lesben- und Schwulenverband (LSVD)
Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.
MISSION LIFELINE INTERNATIONAL e.V.
National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN – Kinderrechtskonvention
Neue Richtervereinigung (NRV)
Plan International Deutschland e.V.
REFUGIO Thüringen - Psychosoziales Zentrum für Geflüchtete und Überlebende von Folter
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. (RAV)
Save the Children Deutschland e.V.
SOS Kinderdorf e.V.
terre des hommes Deutschland
Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V.
Wohnschiffprojekt Altona e.V.
Worldvision Deutschland e.V.
XENION – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte e.V.
Zentrum ÜBERLEBEN
Zukunftsforum Familie e.V.